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2019-05-30 07:24:50, Jamal Tuschick

Aus dem Regal geangelt - Bernward Vespers "Die Reise"

Ich schere mich einen Dreck um Literatur

Sie nannten ihn den Irren von Triangel* - Bernward Vesper bemühte sich um die Veröffentlichung der Schriften seines NS-Vaters, während er zugleich „Schriftsteller gegen den Atomtod“ mobilisierte. Gudrun Ensslin gab es damals auch noch als Braut in Weiß.
*Triangel gehört zu Sassenburg im Kreis Gifhorn

Ein Mann fährt heim. Auf der Strecke von Jugoslawien nach Deutschland überlässt er den Beifahrersitz seines Volvos einem amerikanischen Sonntagsmaler. Man bekifft die Lage. In München nimmt der Reisende LSD, während „die Nebel der Isarwiesen“ steigen. Stoned sickert er in die Boheme. Am fahlen Morgen besucht er Uschi Obermeier. Rainer Langhans kommt dazu. Vesper ist nicht willkommen.
Der Autor (1938 – 1971) gibt die Ordnung seiner Geschichte unordentlich an: „Der eine Teil ist an meinen Vater gebunden, der andere beginnt mit seinem Tod.“
Will Vesper (1882 – 1962) war Leiter der NS-Schrifttumskammer. Nach dem Krieg bemühte er sich, ganz gravitätischer Verlierer, um zügige Fortsetzung der hochbürgerlichen Existenz. Der Sohn erinnert eine ländlich-niedersächsische Kindheit. Er betreibt wörtliche Anschmiegung an LSD-Emanationen in kryptisch-kuriosen Bemerkungen.
„LSD reißt den Schleier von der Wirklichkeit.“
Das Tripjournal ätzt die Schau einer Kindheit, in der das Vorkriegsdeutschland exotisch erscheint.
B. Vesper memoriert nicht nur zur Begründung der Abwehr „den Faschismus der Seele“ seines Vaters. Der Dreck ist in ihm, er wird ihn nicht los. Der Alte hat ihn geimpft, das weiß der Flagellant: „Und am Abend schloss ich mich ins Badezimmer ein und schlug mich mit dem Ledergürtel.“
Am 28. März 1963 zeigen Gudrun Ensslins Eltern die Verlobung ihrer Tochter mit B.V. an: ein Ereignis im Kurparksaal.
Das Paar treibt im linken Lager Prominententourismus. Gleichzeitig bemüht sich Vesper um eine Edition des diskreditierten väterlichen Œuvres.
„Die Reise“ beginnt er Neunundsechzig. In der Gegenwart des Romans, der Fragment blieb, bemerkt Vesper latenten Faschismus in der Verbohrtheit der Betrachter seiner langen Haare. Er sieht sich umstellt von „Vegetables“. Agitierte und Säureköpfe sind hingegen (gute) „Typen“. Im Klub der Kommunarden kommt Vesper zu „Menschen“. In den Formulierungen schlummern umgemünzte Wertungen. Kein kritischer Reflex sichert dieses Denken auf der Rampe, obwohl sonst alles zerlegt wird.
Trotz „theoretischer Schwierigkeiten mit dem bewaffneten Kampf“ trumpft Vesper mit dem Gewaltjoker.
Sechs Jahre nach Vespers Selbstmord erschien die „Reise“ zunächst mit der Fama eines maßlosen Textes. Heute weiß man, dass Verleger Jörg Schröder das Buch in die vorliegende Form brachte. Der Zugriff rechtfertigt nicht den einzigen Einwand gegen die von Kritikern behauptete und von Vespers Offenbarungsdruck scheinbar bestätigte anti-artistische „Authentizität“ der „Reise“. Der verbreiteten Rezeptionsphantasie vom triebhaft-unkontrollierten Auswurf stehen Einlassungen von Henner Voss entgegen. Vespers zeitweiliger Wohngenosse legte dar, dass Vesper biografische Peinlichkeiten verschwieg und auf Effekt schrieb. Vesper wollte Literatur hervorbringen. Er meldete dem Verleger ein wichtiges Werk. Im Deutschen Herbst, Monate nach Erscheinen der „Reise“, tropften erste Kritiken. Sie lösten eine publizistische Flut aus. Vesper bot als durchgeknallter APO-Kopf eine Projektionsfläche für politische Frustrationen der Generationsgenossen. Man verstand das Buch als ein zwischen Theorie, Impetus und Poesie in allen Revoltefarben leuchtende Abrechnung mit Terrorismus: dessen 77er-Virulenz in der Gegenwart eine historische Vergegenwärtigung verlangt.