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2018-07-14 10:17:15, Jamal Tuschick

Als Sommergast im Literarischen Colloquium Berlin las Karosh Taha aus ihrem preisgekrönten Roman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“

Sanaa

Sie heißt wie die Hauptstadt des Jemens und kommt aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris in eine westdeutsche Hochhaussiedlung. Ein Nebenfluss des Tigris fließt durch Sanaas Geburtsland – die Autonome Region Kurdistan im Nordirak. Auf Kurdisch heißt der Fluss Xabûr, auf Türkisch Habur Çayı und auf Arabisch Chābūr. Er findet Erwähnung in Geschichten und Legenden von einem kurdischen Reich, das von Baha-ad-Din 1200 gegründet wurde und nach dem Fürsten Bahdinan hieß. Baha-ad-Dins Wort war Gesetz in der Ebene von Mosul, die wir alle aus den Nachrichten kennen. Kurdische Milizen bekämpften da in Allianzen den Islamischen Staat.

Baha-ad-Din gehörte zur Dynastie der Abbasiden: einem sunnitischen Stamm, der direkt aus der Familie des Propheten hervorgegangen ist und weiter existiert. Abbasiden standen einem im Mongolensturm untergegangenen Kalifat in Bagdad vor. Die Dynastie verzweigte sich auch nach Kairo und behielt ihre Bedeutung, bis die Osmanen 1517 Ägypten übernahmen.

Sanaa weiß das nicht. Sie lebt in einem Spannungsfeld zwischen ihren von der Migration fast tödlich erschöpften Eltern, einer seherisch begabten Tante und deren diabolischen Kumpanin. Ihr heimatliches Hochhaus funktioniert wie ein Überwachungsstaat. Obwohl Sanaa studiert und vorehelichen Sex ohne seelische Verrenkungen praktiziert, bleibt sie merkwürdig angebunden. Ihr Alltag wird von parallelgesellschaftlichen Regeln bestimmt. Es herrschen Banlieue Gesetze.

Karosh Taha, „Beschreibung einer Krabbenwanderung“, Roman, Dumont, 237 Seiten, 22.-

Sanaas Schöpferin wurde 1987 im Kernland des schon lange nicht mehr bestehenden Fürstentums Bahdinan geboren und kam 1996 von Zaxo am Xabûr nach Duisburg an der Ruhr. Sie migrierte aus dem Zweistromland in die Metropolregion Rhein-Ruhr.

Zwischen Euphrat und Tigris entstanden und vergingen Kulturen, lange bevor Europa ins Spiel kam. Das ist Sanaa egal.

Zaxo ist berühmt für seine römisch-antiken Brücken über dem Xabûr. Eine aramäische Quelle erwähnt die Stadt im 11. Jahrhundert. Sie könnte erheblich älter sein.

Karosh Tahas erste Muttersprache ist Kurmandschi. Ich sehe die Autorin im Literarischen Colloquium Berlin. Sie erscheint als Sommergast des Hauses in sommerlichen Farben. In einem diskreten Manöver deutet sie schnell den Abstand zwischen sich und ihrer Heldin an. Sie habe aus Sanaas Sicht geschrieben. Die Studentin verweigert im Roman der dominanten Tante die Gefolgschaft. Sie nennt ihre Mutter beim Vornamen. Sie fühlt sich sicher in einem magischen Kosmos. Frei fühlt sie sich gewiss nicht.

Die Tante belehrt Saana:

„Verlangen ist eine schlechte Art der Sehnsucht.“

Sie steckt eine Zunge in Saanas Auge. Ihre wahrsagende Komplizin verkündet: „Dieses Mädchen wird vier Männer haben. Einen Mann trägt sie in sich.“

Karosh Taha studierte Englisch und Geschichte auf Lehramt und unterrichtet an einem Gymnasium in Essen. Mit einer Heckenschere wird ihrer Heldin eine Strähne abgenommen. Die prophetische Examination gleicht einem ärztlichen Vortrag.

Zorn und Verzweiflung züchten Falten

Die Tante verteidigt in dem Hochhaus ein restauratives Regime. Sie kämpft für den Erhalt tribaler Strukturen. Sie will den kurdischen Klan in der Fremde nicht untergehen lassen.

„Du sagst Kurdistan“

Karosh Taha beweist, dass sie die Fallen der Fremdzuschreibungen zu umgehen gelernt hat. Sie sitzt auf dem Podium nicht als kurdische Botschafterin, sondern als Schriftstellerin, die ihre Chancen mehrfacher Auswahl nutzt.

„Im Nordirak“, fängt sie einen Satz an, wendet sich dem Moderator dann ganz zu: „du sagst Kurdistan“, macht eine Kunstpause, beschenkt das Auditorium mit lächelnder Aufmerksamkeit und fährt fort: „sind die okkulten Praktiken der Tante alltäglich. Da hätte man ihr alles geglaubt.“

Die Quintessenzen aus Kaffeesätzen

In Deutschland wirkt die Kaffeesatzleserei nur wie eine Bemäntelung zum Scheitern verurteilter Kontrollversuche. Sanaa ist zwar nicht frei, aber die Hoheit über ihr Leben liegt auch nicht bei der Tante – und schon gar nicht bei den verbrauchten Eltern. Sanaa dreht Marihuana in die Zigaretten der Verwandten, um sie subersiv zu chillen und um leichter ihrer Wege zu gehen.

„Was ist Freiheit?“ fragt Karosh Taha. „Für eine Frau, die sich auslebt, gibt es auch im Deutschen keine positiven Begriffe.“

Zum Schluss behauptet die Autorin, beim Schreiben keine Kontrolle über die Handlungen ihrer eigensinnigen Erzählerin gehabt zu haben. Karosh Taha hat gerade mit der Niederschrift ihres zweiten Romans begonnen. Noch hat sie das Personal im Griff.