Das unentdeckte Land
„Wir sind die Borg. Ihre biologischen und technologischen Besonderheiten werden den unsrigen hinzugefügt. Widerstand ist zwecklos.“ Star Track
Jüngst erhielt die Schriftstellerin Terézia Mora den Georg-Büchner-Preis. Damit ist mit diesem Preis bereits zum vierten Mal eine Person mit hybrider Identität ausgezeichnet worden, dies belegt einen unumkehrbaren Trend, daß die bedeutenden Innovationen in der deutschsprachigen Literatur nicht von weißen heterosexuellen Männer und dem blonden Fräulein Wunder ausgehen, sondern von Migranten und Migrantinnen stammen, die abseits der Literaturinstitute dem richtigen Leben den Puls fühlen. Einen repräsentativen Überblick über diese Szene bietet der MAINLABOR-Blog. Die Initiatoren gehen davon aus, daß im deutschsprachigen Raum schon lange eine lebendige, hochklassige Literaturszene existiert, in der Texte entstehen, die geprägt sind vom kulturellen und sprachlichen Reservoir mehrerer Kulturen. Sie geben diesen spannenden Entwicklungen im MAINLABOR den nötigen Raum, sich zu entfalten, und fördert langfristig den weiteren Prozess. Über Grenzen gehen, zwischen verschiedenen Sprachen, Lebensentwürfen und Kulturen - das setzt voraus, dass es feste nationale Identitäten oder kulturelle Identitäten, nicht mehr gibt. Das MAINLABOR bietet eine öffentliche Bühne für transkulturelle, lebendige Begegnungen und Kontroversen. KUNO sprach mit einem der Initiatoren, Jamal Tuschick.
Hagedorn: Wir reden über Literatur, die von einem Kulturwechsel geprägt ist. Früher nannte man sie „Gastarbeiterliteratur“. Nach der sogenannten Wende in Osteuropa erweiterte sich der Fokus auf die „Migrationsliteratur“. Ist das Fremdsprechen ein zentraler Lebensnerv der deutschen Literatur geworden?
Tuschick: Wir erwarten Befruchtungen von den sozialen, ethnischen und geografischen Rändern. Das Thema rührt an einer humanen Konstante. Der Mensch braucht Diversität. Ich glaube, er produziert sie automatisch. Deshalb erscheinen ethnisch differente Autor*innen auf eine besondere Weise attraktiv, solange sie das auch im biologischen Schema sind.
Hagedorn: „Fiktion der Nichteinreise“ klingt wie eine Kurzgeschichte von Franz Kafka. Die Themen des MAINLABOR sind die dynamische Entwicklung der Sprache in der Einwanderungsgesellschaft, eigene und fremde Spracherfahrungen, Integration / Desintegration. Verwischen Fragen nach Identität und Heimat?
Tuschick: Identität lässt sich nicht von der Platte fegen. Sie kommt vor Effizienz, das erklärt viele Anpassungslücken. Über Heimat kann man sehr verschieden reden. Für die zweite Einwanderungsgeneration war die Besetzung des Heimatbegriffs schieres Empowerment. Heute steht ein Horst im Weg. Nein, da steht niemand. Es steht alles zur freien Verfügung. Jede Generation soll ihr Vergnügen an Um- und Neudeutungen alter Wörter haben.
Desintegration ist eine Antwort auf Ablehnung, aber ihrem Wesen nach affirmativ. Desintegration heißt: Liebe Autochthone, wir lassen euch nicht im Stich.
Hagedorn: Die Autoren und Autorinnen von Textland befinden sich auf Augenhöhe mit der Gegenwart. Im MAINLABOR findet die Erfahrung von der widersprüchlichen Vielstimmigkeit der Welt ihren Ausdruck in einer adäquaten Vielstimmigkeit der Prosa. Wie finden Sie die Autoren und Autorinnen?
Tuschick: Ich schreibe ständig Autor*innen an, von denen ich glaube, dass ihr narratives Fadenkreuz drei Linien verbindet: Feminismus, Migration, Anti-Leit(d)kultur.
Hagedorn: Ob in der Bukowina, die Aktionsgruppe Banat oder der Krautgarten in Eupen, entwickelt sich die interessante Literatur an den Rändern besonders gut? Gehört es zum Wesen der Literatur das Anderssein zu Literatur zu komprimieren?
Tuschick: Ja, alle anderen können ihre Begabung nur auf Allgemeinplätzen verschwenden. Man braucht Differenz im Dutzend. Jede Spaltung schafft Phantasieprodukte und in der Literatur ist Phantasie ein Produktionsmittel – so etwas wie eine Maschine oder wie Geld.
Hagedorn: Die Bosch-Stiftung hat den Chamisso-Preis für Literatur 2017 zum letzten Mal vergeben: Der Preis habe bereits „seine ursprüngliche Zielsetzung vollständig erfüllt“. Sehen Sie das auch so?
Tuschick: Man wird immer wieder dahinkommen, die Migration für abgeschlossen zu erklären und die Verarbeitung ihrer Erscheinungsformen der Vergangenheit zuordnen. Das sind soziale Fiktionen. Wir sind in einer Völkerwanderung und wer sich auf Ahnen am Ort seines akuten Aufenthalts beruft, hat sein Zelt einfach nur schon sehr lange auf demselben Platz stehen.
Hagedorn: Mit seiner Rede zur Bachmann-Rally hat Feridun Zaimoglu die Neuen Rechten aus dem Diskursraum der Öffentlichkeit verwiesen: "Es hilft nichts, den Rechten edle Motive zu unterstellen, wie es mancher Feuilletonist tut. ... Der Rechte ist kein Systemkritiker, kein Abweichler und kein Dissident, er ist vor allem kein besorgter Bürger" und "es gibt keinen redlichen rechten Intellektuellen. Es gibt keinen redlichen rechten Schriftsteller. Können Migranten als Autoren das Denken vollends ins Offene befreien?
Tuschick: Vielleicht können sie das. Die Chancen mehrfacher kultureller Auswahl sorgen für Vorsprünge. Zaimoglu ist übrigens ein sehr deutscher Autor. Als er in den Neunzigern anfing, sich bemerkbar zu machen, haben ihn die damals jungen Türken überhaupt nicht begriffen, während der deutsche Literaturbetrieb ihn für den Malcolm X der zweiten und dritten Einwanderergeneration hielt. Er ist aber eher ein jüngerer Günter Grass im Land der Studienrätinnen.
Hagedorn: Ist ihnen die ethnische Differenz zur Mehrheitsgesellschaft bewußt oder fühlen sie sich im wiedervereinigten Deutschland integriert wie ein Borg?
Tuschick: Ich bin so deutsch wie Zaimoglu. Wir sind jetzt die Deutschen.
Hagedorn: A.J. Weigoni betreibt mit seinem neuen Roman Lokalhelden eine Revitalisierung des Begriffs „Heimatliteratur“. Sehen Sie das auch als ihre Aufgabe an?
Tuschick: Das habe ich als junger Autor auf einem Grenzgang zwischen Achternbusch und Adorno getan. Heute ist mir das wurscht.
Hagedorn: Trotz aller sprachlichen Inklusion, wie weit sind migrantische Autoren von einer wirklichen Teilhabe am Literatur-Betrieb entfernt?
Tuschick: Sie sind im Beat und im Betrieb. Sie haben volle Teilhabe und übernehmen vielleicht noch den ganzen Laden.
Hagedorn: Sie arbeiten sowohl als Schriftsteller, als auch als Journalist und neuerdings für den MAINLABOR-Blog. Worin besteht der Unterschied zwischen journalistischem Schreiben und der Fiktion?
Tuschick: Für mich ist alles literarischer Journalismus. Manche meiner journalistischen Erfindungen sind in die Geschichtsschreibung eingegangen.
Hagedorn: Sprechen wir von den Mühen der Textarbeit. Wie sollte man sich denn den Chronisten Jamal Tuschick bei der Arbeit vorstellen?
Tuschick: Ich schreibe mit links und weiß nichts von Anstrengung.
Hagedorn: In Ihrem Buch „Aufbrechende Paare“ steht der somnambule Satz: „Beim Schreiben erreiche ich Zustände der Selbstvergessenheit, wie sonst nur im Schlaf.“ Geht Ihnen das manchmal ähnlich?
Tuschick: Ja.
Hagedorn: In den endlosen Weiten des Digitalen kann man sich verlieren und sich selbst fremd werden. Es herrscht die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene, verliert sich das allmählich oder ist face to face wichtiger als Interface?
Tuschick: Ich will niemanden sehen bei der Arbeit und ich bin immer im Dienst.
Hagedorn: Geht der Inbegriff von Fremdheit über die bloße Frage von Sprachkenntnissen hinaus, ist er keine Eigenschaft einer bestimmten Gruppe – sondern eine grundlegende Dimension der menschlichen Existenz schlechthin?
Tuschick: Ich antworte mit Heiner Müller. Kommt ein Mann morgens in Bad und erklärt seinem Gesicht: Kenn ich nicht, wasch ich nicht.
Hagedorn: KUNO dankt für Ein- und Ausblicke.
Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018