© Jamal Tuschick
Gremliza griff nach Zaimoglu
Für William Gaddis war Realität „nichts anderes als die umlaufende Rede“. Hanns Zischler sprach von „asynchroner Wahlverwandtschaft“. Gaddis habe das von Henry James „unter den Teppich gekehrte Gemurmel Amerikas hörbar“ gemacht.
In einem Jahr galten die Prunktexte der Messebeilagen diesem „Großautor der Moderne“ (Gustav Seibt). Es ging um die Etablierung eines weiteren Genies im deutschen Buchmarkt, man hatte sich auf Gaddis geeinigt wie zuvor auf Goettle, Gabriele. Gaddis kam zur Messe nach Frankfurt, seine Familie war seit den Tagen von Peter Stuyvesant in New York tonangebend. Er repräsentierte seine Klasse bis zu den Ziselierungen und erschien als Klischee eines White Anglo Saxon Protestant mit Hosenträgern. Er sah aus wie eine Erfindung von Tom Wolfe.
Verlagsleute gebärdeten sich wie Türsteher, inzwischen waren Lektoratsassistenten Oxfordabsolventen, während die Obermotze noch in Bochum Buchhändler gelernt hatten und sich auf Englisch höchstens ein Bier bestellen konnten. Leute, die sich für qualifizierter, begabter und empfindlicher hielten als mich, zeigten das an. Ich widersprach nicht. Sie hatten recht. Ich betrieb Freibeuterei mit sportlichem Ehrgeiz. Sollte ich einer greisen Instanz Gesellschaft leisten, lehnte ich ab. Ich setzte mich zu keiner alten Lyrikerin und zu keiner antiken Größe. Ich schoss durch die Gänge und trug jeden Tag einen anderen Anzug.
„Nur Masochisten arbeiten mit Peymann. Weiß doch jeder“, sagte eine vergilbte Schönheit aus dem Rheinland. Rheinländerin war auch Silvia Szymanski. Sie kam mit Zaimoglu zum Empfang.
Silvia Szymanski in „Chemische Reinigung:“
„Man müsste sich unheimlich anstrengen, um für einen Jungen das zu sein, was Bier für ihn ist.“
Zaimoglu begrüßte mich brüderlich, eine Szene, die sich bis zu zehn Mal an jedem Messetag wiederholte. Er wollte den Verlag wechseln. Das bedeutete Allianzen mit alten Gegnern und neue Feinde. Ich greife vor. Noch war ein Doppelauftritt mit Stuckrad-Barre undenkbar. Zaimoglus Rotbuch-Verlegerin vereinnahmte „ihren Autor“. Gremliza griff nach Zaimoglu, die Rotbuch-Konkret-Connection stand wie für die Ewigkeit und einen Schnappschuss bereit, ich sortierte mich zu Zaungäste: Herstellern, Archivaren. Zu freien Schreibern, die eine Einladung ergattert hatten. Manche durften nur einmal im Jahr ans Licht. Sie waren Lichtjahre entfernt von den Prachtbuben mit Gaston-Salvatore-Mähnen. Ben Trachman zog mich zu John Berger auf eine Terrasse. Trachman war Leibwächter von Regierungschefs gewesen, bevor er Philosophie-Professor geworden war. Ich hatte Berger schon einmal in Frankfurt gesehen. Dazu später mehr.
John Berger:
„Den Po entlang liegt eine solche Schwere in der Luft, dass die Schwalben in Kniehöhe fliegen, um die niedergedrückten Insekten zu fangen.“
Reclam Leipzig war der Verlag der Stunde, ein Lektor namens Rainer Moritz hatte ein neues Fräulein Wunder eingerührt. Seine Kollegen fahndeten bundesweit nach fotogenen und offenherzigen Anfängerinnen. Gefunden worden waren Silvia Szymanski und Alexa Hennig von Lange. Ihresgleichen galt die kommerzielle Sehnsucht des Augenblicks.
Nach einem Wort von Hans Magnus Enzensberger nahm der Nachwuchs die Direktiven aus den Vorstandsetagen des Literaturbetriebs zu ernst. Diesen Vorwurf musste Silvia Szymanski nicht gegen sich gelten lassen. Mir gefiel sie von allen Debütantinnen am besten. Ich war Veranstalter im U60311, Suhrkamp feierte da seine Feste. Der Club hatte einen Vertrag mit dem Hilton, die Autoren wurden fürstlich untergebracht. Ich lud Silvia ein und besuchte sie im Hotel. Wir verbrachtenZeit in der Gesellschaft fröstelnder Barhockerprominenz.
Theken-Olympioniken. Zelebritäten von eigenen Gnaden.
Die unvermeidlichen Bohrinselingenieure, Australier, Waliser, jeder einzelne nach Ansehen der Person: ein Roman. In einer Bucht las Christian Brückner eine Erzählung von Julio Cortázar (1914 – 1984). Literatur ersetzte das Klavier im Hotel.
Silvia kam aus Merkstein an der holländischen Grenze. So stand es im Ausweis und im Roman.
„Der Heilige Abend ist wieder einmal warm wie Pipi.“
Zur Frohnatur taugt die Erzählerin nicht. Das Räderwerk der Enttäuschung hat sich gleich nach ihrer Geburt in Gang gesetzt.
„Ich bin kein Fußballer, kein Arbeiter, kein Mann. Nichts, was vor meinen Freunden etwas gilt.“
„Schreiben ist der Trost der Langsamen im Kopf, die ihre Chance, sich einzumischen, im Leben dauernd verpassen.“
Ich bejubelte die Formulierung. Den wie aus allen Zapfhähnen fließenden Blödsinn ihrer Umgebung moderiert die Silvia im Roman mit überirdischem Verständnis. Obwohl sie „weg will“, und sei es nur nach Aachen, flirtet Silvia mit dem Merksteiner Elend, das ihr in den Gestalten gewundener Schrate, geriebener Junkies und verschmuster Jungtürken begegnet. Um eine Beobachtung von Franz Dobler zu variieren: Merkstein ersetzt Doblers katholisch-ländlich-schiefen Bretterbums, in dem mehr los ist als an jedem Hochglanznacktbadestrand.
Erst arbeitet Silvia in einer Reinigung, später zupft sie Rüben. Sie singt bei den „Schweinen“ (Deutschpunk). „Schlampi“ nennt Silvia ihr schlechteres Ich. „Schweißfüße“ plagen sie. „Saftladen“ heißt ihr zweites Zuhause. Das ist ein kommunales Wohnzimmer für junge Menschen, die gern trinken. Im „Saftladen“ küsst Silvia „unbekannte Jungen“: Sie könnte studieren. Die akademische Option macht sie der „Saftladen“-Truppe verdächtig. Intellektualität ist krass verkehrt.
Ich kannte das Programm. Ich war entschlossen, unter irgendeiner Überschrift jene Autoren anthologisch aufzureihen, die in den Aufbrüchen und Durchgängen meiner Generation mir angenehm geblieben waren. Ich fragte Silvia, wie sie dabei sein wollte, für den Fall, dass der Joker „ethnische Differenz“ zum Einsatz käme.
„Ich habe einen polnischen Großvater. Das muss reichen.“
Das reichte.