Hier wurzelt das „Wir“ von Max Czolleks „Desintegriert Euch!“ Anna Galkinas Roman „Das neue Leben“ erzählt von falsch genommenen Antibabypillen, elektrischen Eierkochern und einem Lagerkoller
Das Lager hat allerhand zu bieten, zum Beispiel eine Telefonzelle, „von der … man kostenlos ins Ausland telefonieren kann“. In der Absonderung gibt es Supermärkte, ein Arbeitsamt und viele Warteschlangen. Das erzählt Nastja, deren russisch-jüdische Familie nach dem Niedergang der UdSSR via Lettland die Route der Kontingentflüchtlinge nach Deutschland genommen hat. In diversen Separationen ist erst einmal alles wie gehabt. Es gibt Antisemitismus, Spottlust, Schadenfreude und die Angst vor dem KGB neben der Freude am Klatsch und an Schokoriegeln. Nastja setzt ihr Leben als anbetungswürdige Adoleszentin nach den sowjetischen Spielregeln fort. Einen Verehrer reißt sie zu drei Oden hin. „Die dritte enthält deutliche Hinweise auf Altersschwachsinn.“
Anna Galkina, Das neue Leben, Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, 222 Seiten
Nastja bietet sich einer Verlobungsfantasie an, deren Flüchtigkeit von Klügeren als Finte erkannt wird. Doch dann trifft sie den scharfzüngigen Max. Fortan torpediert Nastja seinen Aufstiegswillen. Sie lenkt den Ehrgeiz auf sich. Zu ihrem Glück werden Max und seine Leute in dasselbe Notheim umquartiert wie sie.
Nastja schildert ihren Alltag ohne Verzierungen. Die Einraumwohnung schimmelt. Das Klo ist auf dem Gang, die Küche eine Gemeinschaftseinrichtung. Die Verhältnisse erzwingen eine Geselligkeit, die Brechreiz auslöst. Berufene registrieren die nächtlichen Klogänge der Nachbarn. Plötzlich ergibt sich eine Chance, in Hamburg auf andere Gedanken zu kommen.
Ein Roman von Orhan Pamuk heißt „Das neue Leben“. Anna Galkina hat den Titel kassiert. Ihre Nastja kommt als beherztes Ich zur Sache. Sie erzählt locker vom Hocker von mit Pech getunter Glücklosigkeit, die man auf keinen Fall tragisch nehmen darf. Manchmal fällt sie aus der Rolle der Unbeugsamen. Dann verflucht sie die Auswanderung und ekelt sich vor Deutschland und vor ihrer Familie. Sie ist in einen Stillstand verwalteten Lebens geraten, den ihre Jugend ständig außer Kraft setzen möchte. Ihr fehlt die soziale Lethargie der Altvorderen, die schon lange abgerüstet haben und deshalb dem Nachwuchs lemurenhaft und madig erscheinen. Für Nastjas Eltern entspricht Mangel einer Gewohnheit.
„Das neue Leben steht still in dem farblosen Städtchen“. Es stinkt nach „karitativen Klamotten“ und anderem Plunder, mit dem die Flüchtlinge vorliebnehmen sollen. Nastja und Max entdecken einen Friedhof und noch mehr Rückzugsräume. Einem Keller geben sie den abenteuerlichen Anstrich ihrer Intimität. Verhütet wird „auf Russisch“. Das hat Folgen, die das Verhältnis kühlen.