Nachdenken über Hannah Arendt - Bei Piper erscheint am 16. März »Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert«. Der Band begleitet die gleichnamige Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin, die am 27. März beginnt.
Mit Beiträgen von Micha Brumlik, Ursula Ludz, Marie Luise Knott, Jerome Kohn, Wolfram Eilenberger, Norbert Frei, Barbara Hahn, Thomas Meyer, Ingeborg Nordmann und Liliane Weissberg. Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.)
Sujet der Freundschaft
Rahel Varnhagens Salon vergesellschafte den „Augenblick einer sozialen Utopie“. Er endete 1806 mit dem Berliner Auftritt Napoleons. Die Löwin führte ihren Salon schriftlich weiter. Die Gastgeberin avancierte zur Femme de lettres. Hannah Arendt zeichnet den Weg aus dem warmen Regen eines Hoffnungsüberschusses hin zur resilienten Festungsexistenz in der 1955 erschienenen Abrechnung „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“.
Arendt sieht in V. das Gegenmodel zu dem um Anerkennung bemühten, zur Assimilation entschlossenen „Parvenü“, der mit seinen Anstrengungen den „Paria-Status“ abzustreifen versucht. Arendt erkennt in V. eine vorbildliche Akteurin auch insofern, als sich V. (nach Arendts Ableitung) der Assimilation verweigert.
Die Beschäftigung mit Varnhagen blieb ein Sujet der Freundschaft. Arendt heiratete 1929 den Philosophen Günther Stern. Das Paar etablierte sich in Berlin. Da studierte Arendt Rahel Varnhagens Korrespondenz und widmete die Analyse Anne Mendelsohn. Die Konzentration auf eine Akteurin der Emanzipation entsprach einer politischen Manifestation in Zeiten des immer gefährlicher werdenden Antisemitismus. Arendts Doktorvater Karl Jaspers förderte seine Schülerin mit dokumentierter Skepsis. Er riet zur Zurückhaltung durch die Blume akademischer Argumente.
Arendt dokumentierte für einen NSDAP-Watch antisemitische Propaganda. Sie engagierte sich in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Bald darauf emigrierte sie nach Paris. Es gab einen Kontakt zu Walter Benjamin, der sie ermutigte, sich weiter mit Varnhagen zu beschäftigen. Erst 1941 gelangte Arendt via Lissabon nach Amerika.
In einer Kritik aus dem Jahr 1945 schießt Arendt über das Ziel hinaus. In ihrem intellektuellen Freilauf, so Micha Brumlik implizit, bleibt Arendt zu theoretisch. Brumlik stützt Scholem, indem er ihm das letzte Wort lässt. Es sei doch stets nur darum gegangen, den antisemitischen Verfolgungsdruck zu mildern. Vor diesem Hintergrund verdiente, so Scholem, eine historisch nachträgliche nationalstaatliche Gründung, die sich den Vorwurf einer kolonialistischen und imperialistischen Spätlese mitunter achselzuckend gefallen ließ, jede Unterstützung.
1945 warf Hannah Arendt dem Zionismus einen Pakt mit dem Imperialismus vor. Gleichzeitig verschloss sie sich nicht der Einsicht, „politisch immer nur im Namen der Juden sprechen zu können“. Zudem bestand für sie kein Zweifel daran, dass nur ein Nationalstaat Menschenrechte garantieren kann. Eine nachgeborene Würdigung dessen, was sich da anbahnte, darf nicht außer Acht lassen, dass „eine jüdische Mehrheit in Palästina … demografisch in keiner Weise absehbar war“ (Micha Brumlik), als Arendt den Nationalzionismus Ben-Gurion’scher Verwegenheit dem Revisionismus-Vorwurf aussetzte. Die Akteure fegten ihre Abneigungen beiseite und zogen – unter dem Druck des Holocaust und beschleunigt von vielen Sorgen
Was Rommel in Afrika für sie beinah bedeutet hätte
gemeinsam an kolonialen und imperialistischen Strängen, um sich zu befreien und halbwegs sicher zu halten in einem jüdischen Hafen.
Brumlik führt ein Wort von Heidegger ein: „Weltlosigkeit“ – für die westlichen Zionisten sei „Palästina ein idealer Ort außerhalb der trostlosen Welt“ gewesen, ein Labor für idealistische Experimente.
Man ahnt Arendts Skepsis gegenüber einer sozialen Akrobatik im Abseits des globalen Nordens. Ohne Antisemitismus wäre Arendt als deutsche Philosophin aus einem geistigen Frei- oder Marburg vielleicht nie herausgekommen. Die Herausforderungen der Zeit verlangten Anpassungen mit dem Charakter von Zerreißproben.
Ich folge Arendts jüdischem Volksbegriff so wie ihn Brumlik mühelos adaptiert, ohne Zustimmung oder Ablehnung.
Sie konstatiert, dass der politische Zionismus nicht aus dem Volk kam. Die Aktivist*innen „trauten dem jüdischen Volk die Willenskraft“ nicht zu, „sich die Freiheit zu erobern“. Kein zionistischer Führer (mit Ausnahme von Bernard Lazare) erwartete Impulse aus dem europäischen Revolutionsbetrieb.
Der anarchistische Nationalist Gershom Scholem verurteilte Arendt für ihren Kassandraruf, in dem sich das Wissen offenbarte, dass die Nationalstaaten am Ende waren. Arendt sah keinen Grund, auf eine Föderation zu spekulieren, während „jede imperialistische Lösung als Ersatz für den überlebten Nationalismus“ das kommende Israel zu seinem Nachteil kontextualisieren würde.
In der Kritik schießt Arendt über das Ziel hinaus. In ihrem intellektuellen Freilauf, so Brumlik implizit, bleibt Arendt zu theoretisch. Brumlik stützt Scholem, indem er ihm das letzte Wort lässt. Es sei doch stets nur darum gegangen, den antisemitischen Verfolgungsdruck zu mildern. Vor diesem Hintergrund verdiente, so Scholem, eine verspätete nationalstaatliche Gründung, die sich Vorwürfe mitunter achselzuckend gefallen ließ, jede Unterstützung.
Denken ohne Geländer
Sie untersuchte die Bedingungen des politischen Handelns im säkularen Zeitalter. Ihre Urteile waren politisch furios und standen stets im Feuer der Kritik. Die wichtigste Denkerin des 20. Jahrhunderts plädierte für ein „Denken ohne Geländer“ in der Abwesenheit eines absoluten Wahrheitsbegriffs.
Arendt entstand als freistehende Leitfigur unter dem Druck feindlicher Kräfte. Der Antisemitismus löste sie aus ihren akademischen Zusammenhängen und zwang sie zu politischen Auffassungen. Sie kritisierte den politischen Zionismus, während sie ihm die Argumente lieferte. Den Antisemitismus erklärte sie auch als Reaktion auf Intransparenz in den heruntergekommenen Nationalstaaten, die eine fatale Transzendenz in den Preisgaben ziviler Kontrollen da erzeugten, wo das Bürgerrecht nicht mutterländlich griff. Enthemmte Bürger, so Arendt, trieben in den Kolonien den Imperialismus auf totalitäre Spitzen. Überall profitierten sie von ihren eigenen Unterscheidungen. Sie waren die weißen Haie der Urteilsketten. Bei Susan Neiman, die in den US-Südstaaten aufwuchs, fand ich das Sprichwort:
„Als Katholik … wäre ich beunruhigt. Als Jude würde ich meine Koffer packen. Als Schwarzer hätte ich mich längst aus dem Staub gemacht.“
Der jüdische Patrizieradel hatte europäische Fürstentümer und koloniale Exploitationsexpeditionen finanziert. Bloßgestellt von der (Ressentiments erheischenden) Konstellation eines Reichtums ohne Macht, suchte er unter den entfesselten Imperialisten des 19. Jahrhunderts nach einer neuen Rolle zwischen Separation und Assimilation.
Micha Brumlik widerspricht Arendt punktuell. Er referiert Arendts Feststellung einer „Anomalie: (diese) lag in der Tatsache, dass … ein Volk in eine politische Rolle gedrängt wurde, dass selbst keine politische Repräsentanz hatte“.
Brumlik fasst nach: Arendts Analyse hatte zwei normative Voraussetzungen:
Juden sind im ethnischen Sinn ein Volk.
Erst der Nationalstaat vermag den Bürger schützend in (seine) Rechte zu setzen.
Zieht man die Positionen auf Arendts Linie zusammen, hat man die Begründung für den Nationalzionismus. Arendt selbst wurde „als erklärte Nichtzionistin für die Zionistische Vereinigung tätig“.
„Politisch werde ich immer nur im Namen der Juden sprechen, sofern ich durch die Umstände gezwungen bin, meine Nationalität anzugeben.“