Angesichts der Ereignisse in Chemnitz fordert Deutschlandfunk-Kultur-Kollege René Aguigah Journalisten auf, nicht nur zuverlässig und neutral zu berichten, sondern auch eigene Standpunkte klar zu artikulieren. Wer sich gegen Rassismus stelle, verteidige die Republik. Also machen wir jetzt interventionistischen Journalismus.
Lange war Integration, unabhängig von den Voraussetzungen, der staatlich festgelegte Preis der Migration. Das bleibt absurd in einer Gesellschaft, die sich an all ihren Stammtischen weigert, Einwanderung selbstverständlich zu finden, und die sich einen Innenminister leistet, der Pogrom-Aktivismus begrüßt und den braunen Mob mit dem Sattelschlepper seiner Sympathie in die Mitte der Gesellschaft holt.
Auf dem weiten Feld zwischen taktischer Integration und Assimilation als Herzensangelegenheit wimmeln Unterschiede. Der Schriftsteller Max Czollek erweitert das Spektrum mit dem Begriff Des-Integration. „Des-integriert euch“ ist keine artistische Avantgarde-Formel, sondern eine politische Forderung und ein aktivistisches Konzept. Den Verfechtern einer vielfältigen Gesellschaft liefert das Konzept Argumente für „unversöhnliche Interventionen“. Es postuliert eine Opposition, die über die Kulturufer tritt und aus den Theatern in den politischen Raum vorstößt, um da Nazis Einhalt zu gebieten.
Jetzt sind Lesungen wieder politische Ereignisse. Czollek stellte seine Streitschrift im Berliner Literaturhaus vor. Mit ihm auf dem Podium saßen Esra Küçük (Allianz Kulturstiftung) und Maximilian Popp (Spiegel). Man war sich einig in der Einschätzung, dass „wir Chemnitz noch ein paar Mal erleben“ werden und so auch Prozesse der „Arbeitsteilung“ zwischen der AfD und ihren Leuten auf der Straße, die sich medial in Luft auflösen. Ministerpräsident Kretschmer: „Es gab keine Hetzjagd und keinen Mob.“
Max Czollek, „Desintegriert Euch!“, Hanser, 208 Seiten, 18,-
In „Desintegriert euch!“ verkündet Czollek im Gegenzug: Es gibt kein ohne uns mehr in Deutschland. „Meine Freund*innen und ich sind „Teil dieses Landes, auch wenn wir uns mit dem neuen deutschen Nationalstolz nicht identifizieren … wir sind Teil dieses Landes, das jenseits allen Leitkultur- und Integrationsgelabers existiert. Was bedeutet, dass wir die Rolle nicht annehmen, die uns bei der Inszenierung der deutschen Normalität zugedacht wurde.“
Das Paradigma der Dominanzkultur aka Mehrheitsgesellschaft, so fasse ich Czollek kurz zusammen, gründet auf dem „trügerischen Selbstbild“ vom geläuterten Deutschen und verzeihenden Juden. Man hat sich selbst begnadigt und den Opfern ihre Rollen im „Gedächtnistheater“ (Y. Michal Bodemann) vorgeschrieben. Das Zauberwort lautet Normalität. „Die Deutschen haben sich eine neue Normalität herbei phantasiert. Das Phantasma erlaubt es, die Opfer auf dem Altar der Selbstgerechtigkeit sowie mit infamen Absichten weiter zu opfern – sie zu funktionalisieren und im Opfermodus duldungsstarr zu halten.
Czollek: „Es gibt wenig in diesem Land, dass ich für normal halte.“
Seehofer: „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller Probleme.“
Eine mächtige Integrationsleistung sowohl der Bundesrepublik als auch der Deutschen Demokratischen Republik bestand in der Eingliederung von Nationalsozialisten.
„Man schüttet kein schmutziges Wasser weg, bevor man kein sauberes hat.“ Konrad Adenauer
Normalität und Integration sind im kulturellen Nationalismus Kampfbegriffe und decken Rassismus ab. Man sagt Kultur und meint Rasse. Im Subtext steht: Dein deutscher Pass macht dich zwar nicht zum Deutschen, aber dafür macht dich deine Religion/Hautfarbe/Herkunft zum Ausländer. So soll der Migrationshintergrund von hinten durch die Faust ins Auge abgeschafft werden.
P.S.
Strategisch geht es bei der Bestimmung der Grenzen des Sagbaren in rassistischen Sprechweisen um Verschlechterungen der Standards zum Schutz von Minderheiten. Worte schaffen Wirklichkeit. Das ist die eine Seite der bundesrepublikanischen Realität – offener und verdeckter, begriffener und nicht begriffener Rassismus/Antisemitismus. Auf der anderen Seite steht fest: Der fünfte Teil der deutschen Bevölkerung, also mehr als 17 Millionen Bürger haben einen Migrationshintergrund. 1998 lebten ungefähr so viele Deutsche in der DDR. Diversität sollte als neue Homogenität begriffen werden.
„Homogen ist eine Gesellschaft, in der Unterschiede zweitrangig sind. Meine Weltanschauung verträgt Differenz und Dissonanz. … Die diffusen Bevölkerungsängste dürfen den politischen Diskurs nicht bestimmen.“ Sandra Gugić