Vielen Dank, lieber Franz, für die Blumen
EINER DER BESTEN LITERATUR-BLOGS
Von Franz Dobler | 9. Juni 2020 |
EINER DER BESTEN LITERATUR-BLOGS ist der Block, der vom geschätzten Kollegen Jamal Tuschick mit größter Intensität betrieben und betreut wird. Man braucht kein Ticket, um dort ausufernde Weltreisen unternehmen zu können, die einen weit über den Planet „Literatur“ hinausschleudern. Der digitale MAIN LABOR-Blog ist eine öffentliche Bühne für transkulturelle, lebendige Begegnungen und Kontroversen. Hier debattiert Jamal Tuschick mit jungen Autorinnen und Autoren über ihre Literatur und die Auswirkungen der neusten gesellschaftlichen Entwicklungen auf ihre Arbeit. Der Blog wird ständig aktualisiert.
„Schreiben ist unmöglich, aber noch nicht unmöglich genug.“
„Gott, wie ich meine eigenen Sachen hasse.“
Abscheu mischt sich mit Sorgfalt. Samuel Beckett schwankt zwischen Verzweiflung und Entschlossenheit. Obwohl er ein Pedant der Produktion ist, hält er (s)ein Werk für im Grunde ausgeschlossen. Trotzdem tritt er bedingungslos für seine Texte ein. Das geht so weit, dass er Jean Paulhan zum Duell fordern möchte, da jener als Redakteur des Nouvelle Revue Française ein Verbrechen am „Namenlosen“ beging, indem er eine anstößige Passage des zur Publikation bestimmten Auszugs dem Publikum vorenthielt. Ohnedies wäre es interessant, sich die Wirkungsgeschichte der sperrigen Prosa in der Ära vor ihrer Nobelpreis-Nobilitierung anzusehen.
Am 21. Juli 1945 teilt Beckett dem vielseitigen George Reavey wie in einer Fußnote so untergeordnet die Ablehnung von „Watt“ mit. Eine Kritik ohne Vorausschau begleitet das Abschlägige. Beckett ist gerade nach Frankreich zurückgekehrt.
Samuel Beckett, „Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muss“, Briefe 1941–1956, Suhrkamp, herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck, aus dem Englischen und Französischen von Chris Hirte
Er stellt sich als ein (vom Mangel getroffener) Zeitgenosse ohne jeden Vorsprung dar. Er will seine Pariser Wohnung halten und fürchtet, man könne ihn als Ausländer abklemmen und vom Kontinent fegen. Eine Bemerkung streift die poröse Rechtslage mit dem Subtext: Lieber Sklave in Frankreich als frei in Irland. Ich bleibe seitenlang interessiert, während die übrigen Autor*innen, deren Sachen meine Durchsicht erwarten, für mich nicht so einfach erreichbar sind. In Ian Morris‘ Analyse „Beute, Ernte, Öl. Wie Energiequellen Gesellschaften formen“, aus dem Englischen von Jürgen Neubauer, Deutsche Verlagsanstalt, 432 Seiten, 26,-
äußert sich Margaret Atwood zur argumentativen Zentrallinie des Historikers:
„Der Konkurrenzkampf der kulturellen Evolution drängt uns zu Werten, die in der jeweiligen Phase der Energiegewinnung am besten funktionieren.“
Menschliche Werte haben biologische Wurzel aka genetische Anker. Sie sind Anpassungsprodukte. Mit dieser Feststellung steigt Ian Morris in den Debattenring. Werte stehen in einem funktionalen Zusammenhang mit evolutionären Anforderungen. Morris unterscheidet drei Generallinien unserer Entwicklung – Freibeuter*innen – Bäuer*innen – Nutzer*innen fossiler Brennstoffe.
Atwood schätzt in ihrem Aufsatz „Wenn die Lichter ausgehen“, dass nach einem Energiekollaps kein Tag vergeht, bis das Regime der Straße die Herrschaft an sich gerissen haben wird.
Vierundzwanzig Stunden bis zum Faustrecht
Wenn die Gesellschaft entgleist und die Polizei nicht kommt - Atwood prophezeit Plünderungen schon im Vorlauf der Rückkehr zu archaischen Konstellationen. Bauern verteidigen ihr Land, solange sie können. Städter vagabundieren sofort los und avancieren als Raubnomaden zu Antagonisten der Sesshaften.
Am Rand: Atwood bemerkt, dass eine evolutionäre Triebfeder das Erzählen in Spannung hält. Vermutlich gilt das auch für jede Erzählerin.
Digitale Revolution und kulturelles Gedächtnis
Durch den Kopf geht mir außerdem ein von Asmus Trautsch moderiertes Poesiefestival-Gespräch zwischen Aleida Assmann und Mercedes Bunz im Corona Culture Format. Man beteiligt sich via Konferenzschaltung und nimmt eine private Erscheinung in Kauf.
Assmann sagt: „Heute haben wir einen Knopf im Ohr und das Musikarchiv der ganzen Welt in der Tasche.“
Erhellend fand ich die Aussage: „Das assoziative Gedächtnis kann nicht angesteuert werden.“
Die Ansteuerung schwer erreichbarer Punkte ist eine meiner ständigen Hausaufgaben. Angefangen habe ich vor dreißig Jahren mit der Erfahrung des Beckenbodens. Ich formuliere das vorsichtig: Mich fasziniert der Kontakt zur autochthonen Muskulatur. Ich bilde mir ein, sie mit kleinen Drehungen, die ich als innere Bewegungen wahrnehme, ansteuern zu können. Assmann zitiert Uspenskij/Lotman: „Kultur ist das nichtvererbbare Gedächtnis einer Gruppe.“
Gene - Meme – Symbole
„Die ehemaligen Mittel, gleichartige dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen“, so sagt es Nietzsche in den Spiegel seiner Zeit, waren unveräußerlicher Grundbesitz und Verehrung der Älteren, die jung gewesen sein sollen als Götter und Heroen (als Ahnherrn der Menschheit). Da kein genetisches Programm diese Hochform reproduziert, müssen die Mittel ständig neu „ersonnen“ werden. Das kulturelle Gedächtnis (Maurice Halbwachs) greift ein. Der Begriff schaufelt biologistische Erklärungen in die Tonne der Kultur.
…
„Mit jedem Greis, der stirbt, verbrennt eine Bibliothek.“ Amadou Hampate Ba
Ein Wissen sei, so Assmann, in der letzten Generation der mündlichen Überlieferung angekommen. „Wenn das nicht verschriftlicht wird, dann ist es weg.“
Bunz widerspricht der Fama von den Bewahrungskräften des Internets. Im digitalen Orkus gehe viel verloren.
Zurück zu Beckett
Ziemlich am Ende eines langen Briefes bedenkt Beckett den Tod Alfred Pérons, der 1942 von der Gestapo verhaftet und 1943 nach Mauthausen deportiert wurde. Péron betrat die Bühne als Becketts Französischlehrer in Dublin. Die beiden verband Becketts engste Freundschaft. Gemeinsam umkreisten sie Joyce. Péron lud Beckett zur Teilnahme am französischen Widerstand ein.