„Und die Kinder stießen sich miteinander in ihrem Leib.“
Die Rede ist von Jakob und Esau. Die Zwillingsföten fetzen sich in utero. Sie tragen „territoriale und theologische Streitigkeiten“ in der Fruchtblase ihrer Mutter Rebekka aus.
Delphine Horvilleur, „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“, aus dem Französischen von Nicola Denis, Hanser, 141 Seiten, 18,-
Die Totalität einer vormodern formulierten Scheidung des „Judentums vom Götzendienst“ etabliert etwas Unvereinbares in brüderlicher Gegnerschaft. In seiner Unterlegenheit gelingt es Esau nicht, die ihm von den Vorvätern vorgeschriebene Rolle auszufüllen. Darin erkennt Delphine Horvilleur eine Marke auf dem Weg zum Antisemitismus. Zwei Generationen später gebiert die von den Patriarchen zurückgewiesene Timna „ein Kind der Ablehnung, einen aus Ächtung und Enttäuschung geborenen Sohn“. Amalek wächst zu einem König heran und bestimmt ein Volk nach seinem Namen. Schließlich greift er die von Moses aus Ägypten geführten Kinder Israels an. Seither nennen jüdische Exegeten „besonders erbitterte Feinde“ Amalek. Die Genese des Antisemitismus beginnt mit diesem Enkel Esaus, von dem Haman abstammt, in dessen Gegenwart der Judenhass eine Normierung als historische Konstante erfährt. Haman erscheint als Gegenspieler einer Person, die einigermaßen unauffällig aufs Spielfeld kommt. Mordechai dient Xerxes als Pförtner. Die dem Concierge familiär anheimgestellte Esther nimmt mit ihrem Liebreiz den persischen Herrscher ein. Das exponiert Mordechai zu dessen Nachteil. Besonders übel will ihm und der von Mordechai repräsentieren Minderheit Haman. Da mit Mordechai im Buch Esther erstmals ein Akteur im biblischen Textland als Jude geschildert wird und sich Hamans Hass nicht auf Mordechai als Individuum beschränkt, nimmt, so Horvilleur, exakt an dieser Stelle der Judenhass seinen Lauf.
Ein Nachkomme Esaus begegnet mit tödlichen Absichten einem Nachkommen Sauls, der von David überwunden wurde.
Delphine Horvilleur - Sie ist eine von drei Rabbinerinnen Frankreichs, Herausgeberin der Zeitschrift Tenou’a, Autorin mehrerer Bücher zum Thema Weiblichkeit und Judentum, und eine Stimme Europas. In ihrem aktuellen Essay analysiert Horvilleur den Hate Train mit Faschismus und Misogynie als Tender des Antisemitismus. „Mit großer Klarheit und argumentativer Brillanz zeigt uns Horvilleur Leitmotive des Antisemitismus auf und spannt dabei den Bogen bis hin zur politischen Gegenwart. Ihr Essay ist eine zeitgemäße Re-Lektüre talmudischer Legenden und zugleich eine scharfsinnige Analyse gegenwärtiger Identitätspolitik.“
Palastbouncer beim ersten Xerxes
Die Thora bietet dem zeitgenössischen Verständnis drei Vorläuferkategorien des Jüdischen als Volksbegriffs an. Der Hebräer war ein chaldäischer Auswanderer, der sein Ziel bis zur letzten Zeile nicht erreichte. Er blieb straight & tight ausgerichtet auf das Gelobte Land. Die Kinder Israels sind Nachkommen des Abraham-Enkels Jakob, der nach einem Kampf mit einem Engel den Namen Israel erhielt. Im Weiteren tauchen Judäer auf. Das Wort bezeichnet Stamm und Territorium als lokale Kategorie, so die Rabbinerin Delphine Horvilleur in ihren Überlegungen zur Frage des Antisemitismus.
Erst im Buch Esther sei von einem Juden die Rede. Horvilleur weist daraufhin, dass die Bezeichnung sich weder tribalistisch noch geografisch aus dem Ursprung Juda ergibt. Mordechai gehörte zum Stamm Benjamin, der auf Jakob/Israel zurückgeht. Er lebte als Palastportier von Xerxes in der persischen Diaspora. Esther könnte seine Frau gewesen sein; in den korrekten Legenden erscheint sie als Mordechais Mündelnichte. Jedenfalls fesselt ihr Liebreiz den König, so dass sie auf dem Hochzeitsweg Königin wird. Doch ist das nicht die Story, der Horvilleur nachspürt. Horvilleur fokussiert die Entstehung eines jüdischen Identitätsbegriffs in der Ohnmacht der Zerstreuung. Das biblische Judentum, so Horvilleur, „ist die Folge des Exils“ und ein Festival der Selbstverständlichkeiten so wenig wie ein Hort der Gewissheiten. Denn kaum „hat der Jude (in Esthers Gestalt) den Palast betreten“, tritt mit Aplomb ein Gegenspieler auf.
Horvilleur hält die antagonistische Spannung für konstituierend. In der Erzählung ist der Andere „wesentlich“. Mit Haman hält der Hass Einzug. Er erbittet die königliche Genehmigung zu einem Völkermord.
Horvilleurs Fazit: „Da wo ein Jude ist, ist … der Antisemit nicht weit.“
Biblisches Textland
Täglich erreichen uns Nachrichten über antisemitische Vorfälle in ganz Europa. Erlebt der Antisemitismus eine Renaissance oder war er nie weg? Delphine Horvilleur eröffnet uns in ihrem Buch „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“ eine neue Perspektive auf eines der hartnäckigsten Übel der Menschheitsgeschichte.
Das Alte Testament erzählt von den Kindern Israels und dem hebräischen Volk. So entstanden zwei Identitätsbegriffe im biblischen Textland. Der erste Hebräer wird als Chaldäer in Ur geboren. Es ist schon alles da. Ur zählt als sumerische Gründung zu den Herzstädten Mesopotamiens: dem Anfang von allem, was uns die Sesshaftigkeit beschert hat. Abraham, und darauf will Delphine Horvilleur hinaus, kommt nicht als Jude zur Welt. Er gewinnt diese alternative Identität, indem er Gott gehorcht – Gott und nicht den Menschen.
Das ist der Witz dieser Geschichte. Abraham verlässt seine Leute, heute würde man sagen, das sind Araber. Das heißt, Abraham gibt seine volkstümliche Identität auf und folgt dem Fingerzeig Gottes in ein anderes, für ihn zunächst namenloses Land. Der Selbstausschluss und die Gemeinschaftsverweigerung bilden das irdische Fundament der Existenz im Auge Gottes. Abraham definiert sich in der Exklusivität, die seinem Fortgang folgt. Er wählt, so Horvilleur, einen Transitbegriff für sich.
„In der Sprache der Bibel ist der Hebräer … der Überquerende.“
„Ein Hebräer hat kein namensgebendes Ursprungsland.“
Ihn kennzeichnet, seinen Geburtsort hinter sich gelassen zu haben.
„Sein Name bezeichnet eine geografische oder geistige Abkopplung. Odysseus stammt aus Ithaka und sehnt sich nach Heimkehr. Abraham hingegen stammt aus Ur und unternimmt alles … um nie wieder zurückzukehren.“
Die historisch-hebräische Identität ergibt sich nicht aus der Herkunft, sondern aus dem „Begehren eines Landes, in dem wir nicht geboren sind“ (Emmanuel Levinas).
Horvilleur leitet daraus „die unmögliche Definition des Judentums“ als Zentralfigur des konzentrierten Denkens ab. Das gilt für alle, die bereit sind, über ihre Küstengewässer hinauszufahren. Jeder Mensch muss sein Land gewinnen genauso wie jeder Wanderwolf sein Territorium. Auf die eine oder andere Weise legen alle weite Wege zurück. Ständig wird die Rückkehr zu den Ursprüngen unmöglich gemacht. Mich bringt das auf Philip Manows Analyse „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“. Da mache ich jetzt weiter:
Mit den Nationalstaaten sterben viele politische Begriffe und fast alle Selbstverständlichkeiten. Selbstverständlich gehen wir davon aus, dass wir bei den Formulierungen supranationaler Kollaborationsstrategien nationalstaatliche Kategorien dehnen. Die Angst vor der Ausweitung zündet den Populismus. Populismus wirkt als Reflex auf die Dekonsolidierung des Nationalstaates.
Tyson‘s intention alone would make him win
Horvilleur setzt „das hebräische Volk“ und die Kinder Israels nicht gleich. Abraham wurde zum Hebräer, sein Enkel Jakob, nach dem Fight mit einem Agenten Gottes, zu Israel. Mich würden die Techniken interessieren, mit denen Jakob sich im Kampf gegen einen 007-Engel halten konnte. Horvilleur fällt dazu nichts ein. Großmeister Kernspecht diskutiert gerade auf Facebook einen Fall, der ansatzweise das Gefälle illustriert. Ein Wing Chun-Darsteller „makes the same mistake as the standard wing chun person irrespective of the wing chun style he follows: This particular Bong (Sao) accompanied by a WuSao is unable to cope with (Mike) Tyson‘s punch“.
Auf dem Foto sieht man den Artisten mit der genannten Technik und Tyson, der eine Hand zum Körper setzt. Auch der Kopf gehört zum Körper, doch unterscheidet man beim Boxen zwischen Kopf- und Körpertreffern. Ich beschränke mich auf zwei großartige Antworten:
Shoulin and the Art Of Electric Unicycle: „Shoulder system must drive the elbow to a high posture. The palm facing the attack in a funnel spiral action is the effect to the cause of the driving elbow. The forearm meets and rolls to defect the energy. All too often the bad habit of fast hands makes the driving elbow fail in Bong Sao. This is why it is important to go back to Siu Nim Tau to review the basics. After several cycles of review of Siu Nim Tau, Chum Kiu, and Biu Jee the timing becomes the discipline.“
Jason Davis: „Tyson‘s intention alone would make him win.“
Daraus folgt, der Engel hat nur mit Abrahams Enkel gespielt. Ich setze den Satz in gedachte Klammern. Sonst funktioniert der Anschluss nicht. Horvilleur habe eine „kämpfend errungene Identität“ seinem Volk weitergegeben, um den Preis einer Verletzung, die ein „ewiges Hinken“ nach sich zieht.
Die Autorin baut das Hinken aus. Jakob-Israel sei mit der Verletzung seiner Geburtsidentität entrissen und für alle Zeit seiner Stabilität beraubt worden. Man könnte entgegen: Wer einen Engel besiegt und sei es nur, weil der es ihm erlaubt, der kann auch auf einem Bein stabil stehen.