Stichwort Sicherheitsschleuse
Nie liegt der letzte nennenswerte Vorfall ein halbes Jahr oder auch nur drei Monate in der Vergangenheit. Vielmehr datiert jedes Jetzt stets ein paar Tage, zwei Wochen oder einen Monat nach einem antisemitischen Angriff, der herausragt und in den Gesprächen minder schwere Fälle dominiert.
Ronen Steinke, „Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“, Berlin Verlag, 18,-
Ronen liefert einem unsäglichen Diskurs schwer erträgliche Szenen. Philipp Peymann Engel äußerte sich einschlägig zuletzt im Spiegel:
„Am selben Morgen, als vergangene Woche Freitag in Berlin-Lichtenberg eine jüdische Kiezkneipe brennt, gehe ich, rund zehn Kilometer weiter süd-westlich, mit meiner fast zweijährigen Tochter im Stadtteil Grunewald durch die Sicherheitsschleuse des jüdischen Kindergartens.“
Stichwort Sicherheitsschleuse. Die Kinder sehen „Metallstangen, Metallspitzen, Videokameras“. Das ist ihr Entrée. Das prägt ihr Bild von der Öffentlichkeit als bedrohte Gesellschaft. Vor ihnen öffnet sich ein Tor, das sich hinter ihnen schließt. Sicherheitsleute „kommen mit Walkie-Talkies“. Die Geläufigkeiten ihres Dienstes dürfen niemals bloß Routine sein. Der Attentäter von Halle „kam aus dem Nichts“. Man muss im Modus bleiben und doch konziliant in die Runde lächeln.
Die Kinder erleben eine Segregation. Sie werden unterschieden von den anderen, die auf ihren Wegen träumen und auf die selbstverständlichste Weise nicht mit Gewalt rechnen müssen. Die Security ist jung und Sneaker-smart. Athleten („die Kinder lieben sie“) verständigen sich in der Zeichensprache.
„Ein Metalldetektor fiept.“
Das ist die Normalität für jüdische Kinder, „die sich (im Weiteren) von anderen nur dadurch unterscheiden, dass (sie) im Herbst Chanukkaleuchter aus Knetmasse basteln statt Adventskerzen“.
Die Schüler*innen trainieren auf Terrorangriffe abgestimmtes Verhalten.
2012 drang ein Attentäter in Toulouse „in eine jüdische Schule ein. Er tötete vier Menschen, sie waren dreißig, acht, sechs und drei Jahre alt. In Belgien befahl die Polizei allen jüdischen Schulen zu schließen, nachdem ein Attentäter im jüdischen Museum um sich geschossen hatte.“
Das prägt die Wirklichkeitsbegriffe der Debütant*innen. Die Vorsicht greift um sich. Befragte verweigern die Preisgabe ihrer Nachnamen. Es kursieren Listen mit den Namen von Juden.
In den geschlossenen Räumen der Schule „lernen die Kinder ihre jüdische Identität als etwas Positives kennen“. Die Alarmstimmung, in der jede(r) gefährdete AußenseiterIn, ihre privaten Rechnungen aufmacht und subtile Vorkehrungen trifft, weicht im Sog der Zugehörigkeit - in einer Lehranstalt, die mitten in Deutschland wie eine „militärische Sperrzone“ aufgebaut und eingerichtet ist.
Vorgänge, die von anderen Kindern so einfach wie selbstverständlich ferngehalten werden, geraten zwangsläufig in die Wahrnehmungssphäre jüdischer Grundschüler*innen.
Was ist das angemessene Risikovokabular für Sechsjährige?
Aus der Ankündigung
Zeit, dass Polizei und Justiz aufwachen!
In Deutschland hat man sich an Zustände gewöhnt, an die man sich niemals gewöhnen darf: Jüdische Schulen müssen von Bewaffneten bewacht werden, jüdischer Gottesdienst findet unter Polizeischutz statt, Bedrohungen sind alltäglich. Der Staat hat zugelassen, dass es so weit kommt - durch eine Polizei, die diese Gefahr nicht effektiv abwehrt, sondern verwaltet; durch eine Justiz, die immer wieder beschönigt.
Der jüdische Autor Ronen Steinke, selbst Jurist, ist durch Deutschland gereist und erzählt von jüdischem Leben im Belagerungszustand. Er trifft Rabbinerinnen und Polizisten, konfrontiert Staatsschützer, Geheimdienstler und Minister mit dem Staatsversagen. Viel muss sich ändern in Deutschland. Was zu tun wäre, erklärt dieses Buch.