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2020-11-29 04:21:03, Jamal Tuschick

Fußnote der Landesgeschichte

Portia, von ihrem Shakespeare ehrgeizig liebenden Vater so genannt nach einer Protagonistin des elisabethanischen Großmeisters, checkt ungerührt in Europa ein.

"We do pray for mercy."

Laura Carmichael speaks Portia’s lines from The Merchant of Venice, Act IV, Scene 1.

Eingebetteter Medieninhalt

Was zuvor geschah

Portia Kariku recherchiert die Todesumstände ihres Bruders David. Er wurde von seiner Frau, der Schweizerin Katharina, auf dem Baseler Bahnhof vor einen Zug geschubst. Gleichwohl bereist die Schwester Europa mit einem über das Verbrechen hinausragenden Interesse. Es gefällt mir, dieses Interesse ethnologisch zu nennen.

So geht es weiter

„Die Beziehung eines Schwarzen zu Europa bedarf stets einer Qualifizierung.“

Für Portia ist das eine neue Erfahrung. Die Tochter eines Schriftstellers mit der Attitüde des (im Verhältnis zum Despoten kongenialen) Dissidenten begreift Europa als den Groß(t)raum, in dem ihr Vater eine donnernde Identität aus dem Exil destillierte. Jahre hat die Familie in England gelebt. Die Vorbehalte der Diaspora-allergischen Mutter prägten Portias Wahrnehmung. Im Bauch der Unzufriedenen beschrieb sie die Rolle rückwärts nach Sambia.

Helon Habila, „Reisen“, Roman, herausgegeben von Indra Wussow, auf Deutsch von Susann Urban, AfrikAWunderhorn, 320 Seiten, 25,-

Ein politischer Umschwung erklärte die vehemente Kritik des Vaters an vormals in Sambia herrschenden Verhältnissen zur Fußnote der Landesgeschichte. Niemand gleich wo in Afrika zeigte mehr auch nur das leiseste Interesse daran. In Europa behielt James Kariku seinen Rang als Kenneth Kaundas schärfstem Kritiker.

Kaunda besteht noch in seiner Leibhaftigkeit, während (der erfundene) Kariku nach einer verspäteten Heimkehr die Gleichgültigkeit des Regimes mit seinem beleidigten Tod quittierte. Seither erscheint der interessierten Öffentlichkeit Portia als tüchtige Tochter einer historischen Persönlichkeit. Sie selbst geht verspielt mit intellektuellen Avancen um. Sie hat ein leichtes Herz und einen guten Schritt (mit dem sie Berlin abmisst). In der deutschen Kapitale versorgt sie sich mit Abwechslung im Easyjet-Airbnb-Netflix-Spektrum. Sie kommt von einem anderen Stern, sobald es darum geht, zu begreifen, dass viele Weiße reisende Schwarze für prekäre Migranten halten.

„Warum gehen Weiße stets davon aus, dass jeder Schwarze, der unterwegs ist, ein Flüchtling ist?“

Portia reagiert mittelständig-versnobt auf die global standardisierten Konsumchancen. Ihre Performance definiert die Verwerfungslinie. Konkludent klärt die Akteurin den Status quo ab. Die Lektion: Finanzielle Spielräume bestimmen die Daseinskurse ohne Ansehen der Staaten und Personen.

Exotisch erscheinen Portia „Afrodeutsche, die keine Erinnerung an Afrika haben“, und von denen die Lehrerin bislang nur gehört hat. Attraktiv findet sie den Schwarzen Nachbarn ihrer Berliner Airbnb-Wohnung. Portia fängt sofort an zu flirten und zieht ihn in ihren Bann. Der Leser erkennt in dem Gefeierten Ginas Mann wieder. Sie erinnern sich: Viel Zeit verbrachte das alle Erwartungen auf Academia richtende und den männlichen Hemmungen zum Trotz verheiratete Paar in einer Zweiraumwohnung über einem Parkplatz in Arlington, Virginia. Bis Gina „das renommierte Berliner … Kunststipendium“ erhielt und die Eheleute sich in der deutschen Hauptstadt als arrivierte Zaungäste etablieren.

Geschlechts- und Fluchtmigration

Mark, geflüchtet aus Malawi, entpuppt sich als Frau namens Mary Chinomba. In seiner Person vereinen sich Geschlechts- und Fluchtmigration mit dem Verschwinden.

„Schreiben ist ... ein politischer Akt“, sagt Helon Habila.

Mark, geflüchtet aus Malawi, entpuppt sich als Frau namens Mary Chinomba. In ihrer Person vereinen sich Geschlechts- und Fluchtmigration mit dem Verschwinden. Die Frau verschwindet in der Figur/der Geschichte eines männlichen Geflüchteten und der Geflüchtete verschwindet von der Berliner Bildfläche, während der Erzähler sich auf der hauptstädtischen Partymagistrale langweilt und mit Anwälten, die sich von ihren Geliebten Präsenzpflichten bei Ausstellungseröffnungen auferlegen lassen, in Tümpeln der Peinlichkeit badet. Seine ethnische Herkunft führt den Akteur der internationalen Kunstschickeria automatisch zu den Ufern der Flüchtlingsströme. Da erwartet man Unterstützung und Kompetenz.

Gina hält ihren Mann für bindungsscheu. Er erklärt sich seine Defizite mit einer vom Mangel definierten „migrantischen“ Existenz. Viel Zeit verbrachte das alle Erwartungen auf Academia richtende und den männlichen Hemmungen zum Trotz verheiratete Paar in einer Zweiraumwohnung über einem Parkplatz in Arlington, Virginia. Bis Gina „das renommierte Berliner … Kunststipendium“ erhielt und die Eheleute sich in der deutschen Hauptstadt als arrivierte Zaungäste etablieren.

Der Erzähler bemerkt eine „amerikanische Firnis auf … eher traditionellen Gassen“. Als Spezialist für die Berliner Konferenz* bewegt er sich auf vertrautem Pflaster.

„Der Erwerb von Land ist in Ostafrika sehr leicht … Für ein paar Flinten besorgt man sich ein Papier mit einigen Negerkreuzen.“ Bismarck

*Vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 konferierten im Reichskanzlerpalais Delegierte aus dreizehn Staaten, die einer Einladung des Reichskanzlers Otto von Bismarck gefolgt waren. Auf der Berliner Konferenz aka West Africa Conference aka Congo Conference legten sie die Kriterien für die völkerrechtliche Anerkennung von Kolonialbesitz fest - the go-ahead to the extensive colonization of the continent – the arbitrary partition of Africa in absence of the Africans.

Gastgeber Bismarck prägte das Wort vom „Platz an der Sonne“, den sich Deutschland im kolonialen Wettbewerb mit den europäischen Großmächten und dem Osmanischen Reich sichern müsse. Der deutsche Platz an der Sonne war klein und wurde nicht lange gehalten. Das rechnet man heute zu den entlastenden Momenten deutscher Geschichte. Die Einschätzung ignoriert einen Völkermord und vernachlässigt die Tatsache, dass Deutsche seit dem 15. Jahrhundert an globalen Ausbeutungsfeldzügen beteiligt waren. Der Kolonialismus war ein „europäisches Projekt“ (Joseph Conrad), dass die Fugger und Welser genauso vorantrieben wie die Medici. Die Trennungen zwischen staatlichen und privaten Unternehmungen waren durchlässig. Kaufleute traten als Statthalter auf und nahmen Regierungsaufgaben wahr. Ein Grundstock der ersten deutschen Kolonie in Afrika war das Lüderitzland (heute Namibia), benannt nach dem Bremer Tabakhändler Adolf Lüderitz.

Die eiserne Tante im Puppenhaus

„Erfundene Geschichten sind die Währung unter den Heimatlosen.“

Kinderlose Frauen schließen sich mutterlosen Kindern an. Man spielt Familie mit heimlichen Vorbehalten. Den auf der Flucht zerstörten Bindungen hält kein Vergleich stand. Darunter leidet der nigerianisch-libysche Mediziner Manu, der von seiner Frau Basma, nicht jedoch von seiner Tochter Rachida abgesprengt wurde. Manu vermisst Basma bis zum Wahnsinn. Trotzdem erschöpft er sich in friedlosen Verstrickungen mit Hannah aus Eritrea sowie mit der deutschen Angela, die Rachida gern auf einer ihrer Pferde reiten lassen möchte. Manu kennt Angela aus dem Nachtleben. Der Arzt arbeitet vor einem Clubportal. Er hilft Verfeierten, ihre Autos zu finden und einzusteigen.

Der Romanfokus gleitet wie ein Scheinwerfer weiter zu Portia.

Benommen von Orientierungslosigkeit fährt die Heldin Richtung Liestal. Meine Freundin Wikipedia weiß es mal wieder: „Liestal … ist eine … Gemeinde … des Bezirks Liestal sowie des Kantons Basel-Landschaft … (und liegt) … fünfzehn Kilometer südöstlich von Basel“.

Basel/Landschaft. Portia, von ihrem Shakespeare liebenden Vater so genannt nach einer Protagonistin des elisabethanischen Großmeisters, besucht die zierliche Schönheit Katharina, deren Englisch zu wünschen übriglässt. Die promovierte, irgendwie aus allem geschiedene Dozentin, wohnt nicht nur in dem Haus einer eisernen Tante, sondern auch in den von der Tante selbst geschreinerten Möbeln.

Portia wähnt sich in einem Puppenhaus.

Prison Dialogues

Portia Kariku recherchiert die Todesumstände ihres Bruders David. Er wurde von seiner Frau, der Schweizerin Katharina, auf dem Baseler Bahnhof vor einen Zug geschupst. Gleichwohl bereist sie Europa mit einem darüber hinausragenden Interesse. Es gefällt mir, dieses Interesse ethnologisch zu nennen.

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Exotisch erscheinen Portia „Afrodeutsche, die keine Erinnerung an Afrika haben“, und von denen die aus Sambia gebürtige Lehrerin bislang nur gehört hat. Attraktiv findet sie den Schwarzen Nachbarn ihrer Berliner Airbnb-Wohnung. Portia fängt sofort an zu flirten und zieht ihn in ihren Bann. Der Leser erkennt in dem Gefeierten Ginas Mann wieder. Sie erinnern sich: Viel Zeit verbrachte das alle Erwartungen auf Academia richtende und den männlichen Hemmungen zum Trotz verheiratete Paar in einer Zweiraumwohnung über einem Parkplatz in Arlington, Virginia. Bis Gina „das renommierte Berliner … Kunststipendium“ erhielt und die Eheleute sich in der deutschen Hauptstadt als arrivierte Zaungäste etablieren.

Inzwischen ist Gina in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Der namenlose Erzähler des Romananfangs spiegelt sich glänzend in Portias Wahrnehmung.

„‘Can I help …?‘, wiederholte er. Er sah gut aus, nicht auf die goldige, gefühlvolle Denzel-Washington-Art, sondern zurückhaltender, vor allem wenn er … lächelte.“

Portia schnappt sich den Zurückgebliebenen und bummelt mit ihm durch Berlin und Basel. In einem Antiquariat lassen sich die Akteure so vernehmen:

“He looked at the title: Prison Dialogues, by James Kariku. ‘I remember this book. I had to study it for my secondary school finals’.” “’My father’, she said.”

Das Gewissen Afrikas

Der Namenlose übernimmt die Rolle, die ihm angetragen wurde. Das heißt, er flirtet zurück und kauft einer fliegenden Blumenhändlerin die Rose zum Drink in einer Bar direkt am Mauerpark ab.

Portia stammt aus einer Familie von Kenneth Kaunda*-Gegnern. Sie genoss ihre Erziehung im englischen Exil. Dem Vater gefiel das Nebelland besser als der Mutter, die es nach Sambia zog. Der akademisch gepolsterte Publizist klapperte die Vergabestellen von Stipendien und die Schauplätze der Begünstigungen in Europa ab. Während in seiner ersten Heimat niemand mehr wusste, wer er war, reüssierte er in der weißen Welt als „das Gewissen Afrikas“.

*„Kenneth David Kaunda (*1924) war von 1964 bis 1991 erster Präsident Sambias und einer der wichtigsten … (Akteure) der Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika.“