Tief in Transsilvanien liegt ein Flecken am Fuß der Karpaten, den die Erzählerin lediglich B. zu nennen bereit ist. Jene Bukarester und Kronstädter, die Ferienhäuser in der Gegend besitzen, erklären B. zum Dorf. Die Einheimischen sprechen aber trotzig von einer Stadt. Im Kreis der erweiterten Familie verbringt die Erzählerin die alljährige Sommerfrische an einem Waldsaum des bezeichneten Weilers: in einer Villa, die dem Eigentum einer Großtante bis Neunundachtzig entzogen bleiben wird. Man räumt den Ausstattungskitsch der Ceausescu-Ära beiseite oder deckt ihn ab; angewidert von dem hohlen Pomp; der Signatur eines kolossalen Niedergangs.
Dana Grigorcea, „Die nicht sterben“, Roman, Penguin Verlag, 22,-
Den gesellschaftlichen Verwerfungen zum Trotz gelingt der Erzählerin eine tadellose Kindheit und Jugend mit den Schwerpunkten Tennis und Literatur. Sie absolviert das Höhere-Tochter-Programm. Sie spricht die Leserin direkt an und zeigt (für die bessere Anschauung) ein, extra aus dem Keller geholtes Bild von Prinz Pfahl - Kazıklı Bey. So nannten die Osmanen den rumänischen Aristokraten Graf Dracula.
„Gemalt wurde Fürst Vlad der Pfähler vom Rumänischen Land irgendwann zwischen 1462 und 1475 während seines längeren Aufenthalts in Visegrád beim ungarischen König Matthias Corvinus.“
Die Erzählerin begegnet der Leserin nicht nur als Dracula genetisch nachkommende Gastgeberin, sondern auch als Erbin eines geistigen Vermächtnisses. Nach einem Studium an der Académie de la Grande Chaumière etabliert sie sich in B.
Wie lebendig ist die Dracula-Legende heute in Rumänien? Muss man sich das so vorstellen, dass Kinder damit aufwachsen?
Vor der Wende hat man in Rumänien vor allem von dem einen Dracula geredet, dem blutrünstigen Diktator Nicolae Ceausescu. Es gab auch die alten, schwülstigen Volksmärchen von Vampiren, die in der Nacht die jungen Mädchen sexuell „erwecken“, die dann am Folgetag bleich und ausgelaugt aufwachen und sich wieder nach der Nacht sehnen. Nach 1989, als sich das Land dem Tourismus öffnete und viele Touristen nach Bram Stokers Dracula zu und den Spuren der historischen Fürsten-Figur zu suchen begannen, die Bram Stoker zu seiner Dracula-Figur inspiriert hat, wollte der rumänische Tourismusminister einen Dracula-Park bauen, um diesen Mythos zu bedienen und daraus Kapital zu schlagen. In dieses Projekt haben korrupte Politiker und zwielichtige Geschäftsmänner investiert. Und es gab einen großen Aufschrei im Land, dass man sich die Geschichte um Vlad dem Pfähler von Fremden deuten lässt. Da ist der Kult um diesen mittelalterlichen Fürsten erst richtig aufgekommen – ein unnachgiebiger Fürst, kühn und gerecht, der kurzen Prozess machte mit den Korrupten im Land: Er hat sie nämlich gepfählt.
Wofür steht der Dracula-Mythos in Ihrem Buch?
Der Dracula-Mythos im Buch steht für die Sehnsucht vieler Menschen nach der starken Hand, für den fast schon morbiden Wunsch, düstere Figuren wie den Autokraten Putin, einen Trump oder in Deutschland die AFD-Leute möglichst an der Macht zu sehen.
Der Dracula-Mythos steht für die Ereignisse aus der Vergangenheit, die man längst begraben zu haben glaubte, die jetzt aber wieder aus dem Grabe kommen und uns heimsuchen. Letztendlich geht es um den Vampirismus in unserer Gesellschaft.
In Ihrem Buch liest man beeindruckende Szenen in einer Gruft: „Als ich mich auf allen Vieren ins Grab hineinbückte, fand ich auf dem Steinboden ein paar Gebeine, ein Stück Schädeldecke und ein paar längere Knochen sowie Knochensplitter, die ich einzeln einsammelte und in den Sack legte, diese und die vier handgroßen eisernen Flügelornamente, wohl von den Sargecken, sowie ein Paar Schuhe aus grüner Seide mit violettem Stein und einem kleinen, quadratischen Absatz, neckisch eingebogen. Ob die im Jahr 1490 hier begrabene Ahnin tatsächlich so kleine Füße hatte oder ob die Schuhe auf puppenhafte Größe eingeschrumpft waren, fragte ich mich, wahrscheinlich beides; die Schuhe sahen neuwertig aus.“ Wie recherchiert man, dass man so etwas schreiben kann?
In Rumänien ist der Tod sichtbarer als hier: es gibt noch die Totenwache, man wäscht den Toten, küsst ihn, in manchen Gegenden fotografiert man sich auch mit ihm. Und auf den Friedhöfen wird ein Grab auch nicht so schnell ausgehoben, sondern man hat Familiengräber, und manche haben auch Gruften, die seit Jahrhunderten in Familienbesitz sind.
Vor dem Begräbnis meiner Großmutter bin ich in die Familiengruft hinabgestiegen, um eben Platz zu machen für den neuen Sarg – und das, was ich im Roman beschreibe, das Aufbrechen des alten Grabes, das Einsammeln der alten Gebeine und auch die intakten grünen Schuhe von puppenhafter Größe, das habe ich selbst gesehen und erlebt.
Ihre Protagonistin fühlt sich allein in einem Moment, als sie begreift, dass es niemanden mehr gibt, der von früher erzählen kann, dass man vieles nicht mehr fragen kann. Kennen Sie dieses Gefühl auch?
Natürlich – mit jedem Menschen, der stirbt, verschwindet eine Welt. Für meine Generation in Rumänien ist dieses Gefühl noch drastischer, da die Großeltern diejenigen waren, die noch eine Welt vor der Diktatur erlebt haben, also in einem anderen Geist erzogen wurden.
Ist das Schweigen zwischen den Generationen in Rumänien ein Spezielles? Sie haben einmal gesagt, dass es Ihnen leichter fällt, an der Generation Ihrer Großeltern anzuknüpfen als an der Ihrer Eltern, woran liegt das?
Ja, meine Generation wurde von den Großeltern großgezogen, die Geschichten von vor der Diktatur weitergegeben haben. Die Eltern, im Kommunismus geboren, haben gearbeitet. Und sie haben nicht viel mit den Kindern geredet, ihnen auch nichts erklärt oder anvertraut, zum Teil aus Angst, dass sich die Kinder verplappern und damit die ganze Familie in Gefahr bringen könnten. Diese Sprachlosigkeit hat sich erhalten.
Ihre Protagonistin hat an der Kunstakademie studiert und ist Malerin. Warum haben Sie diese Ebene der Malerei, der Kunstgeschichte eingeführt?
Der Roman ist auch eine Reflexion über das Wesen der Kunst. Als Kind schaut sich die Protagonistin mit ihrer Großtante Mamargot Gemäldealben an, und die Großtante sagt angesichts der Schönheit der Bilder und des Zustands der Kontemplation, in den sie sich beide versetzen können, den Satz „Nichts kann uns brechen“. Es ist ein zentraler Satz im Buch, und der besagt, dass die Kunst einen rettet. So wird die Protagonistin auch Malerin, und ihre Wahrnehmungen von ihrer Umgebung sind die einer Malerin: sie ist eine genaue Beobachterin, freut sich an Farben und Formen und Stimmungen und gleicht diese Bildern an, die sie kennt.
„Zu Hause ist man da, wo man Gastgeberin ist“, sagt Mamargot einmal in Ihrem Roman. Wie würden Sie als vielsprachige Schweizerin mit rumänischen Wurzeln beschreiben, was und wo das ist, zu Hause?
Diesen Satz habe ich in meinem Präsentationsvideo für den Klagenfurt-Literaturwettbewerb gesagt und mich hier im Roman selbst zitiert. Was ich hiermit sage, ist, dass man da zu Hause ist, wo man großzügig sein kann, wo man in seinem Kreis und darüber hinaus wirken, anderen etwas geben kann. Ich bin in der Schweiz zu Hause, kann hier schreiben, habe meine Leser, organisiere monatliche Benefiz-Lesungen für Flüchtlinge, erziehe meine Kinder – und ich bin auch in Rumänien zu Hause, habe meine Leserschaft, nehme oft Stellung zu gesellschaftlichen und politischen Themen, habe ein Kultur-Projekt usw.
Ich erinnere kurz an Grigorceas Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“.
„Rapineu wohnte zwei Straßen entfernt und war Vaters Schulfreund und, was Mutter so beeindruckte, er war Souffleur im Bukarester Opernhaus. Es muss wohl seinem verschrobenen Humor geschmeichelt haben, als er, der doch in einem dunklen Kasten im Bühnenboden arbeitete, einen ebenso kleinen, allerdings erhöhten gläsernen Kasten beim Gartenzaun seines Hauses errichten ließ – für die operettenhafte Erscheinung jener Dame, die alle im Quartier nur die „Hübsche“ nannten und die in dem Glaskasten dem sehr lukrativen Beruf der Remailleuse nachzugehen begann, sie repassierte Laufmaschen in Seidenstrümpfen.“
„Repassieren“ ist ein schönes Wort. Grigorcea liefert der Niedergang des Warschauer Pakts erstaunliche Bilder, obwohl sie einst in einem Gespräch „von einer Zeit der Sprachlosigkeit“ sprach. Der Eiserne Vorhang hebt sich vor den Augen ihrer Heldin Viktoria. Drei Jahre nach Ceausescus Exekution fliegt Michael Jackson ein. In Bukarest erwartet man ihn wie einen Engel der Erlösung. Michael Jackson nennt Bukarest Budapest. Man kann noch nicht mal sagen, dass er Rumänien mit Ungarn verwechselt, so oder so sagen ihm die Länder nichts. Aber die Heilserwartung der von Ceausescu Erlösten lässt sich nun nicht mehr auf Michael Jackson übertragen. Von Magie zu Maggi mit einem Versprecher.
Wir bezogen unsere europäischen Informationen aus einer arabischen Filiale
Grigorcea betont den weit über Rumänien hinausreichenden Radius ihrer Vorfahren.
„Meine Großeltern hatten bereits europäische Biografien.“
Ein Großvater war Bukarester Bürgermeister, als Rumänien von einem König regiert wurde. Man riet zum Exil, er blieb mit der Erwartung, dass sich die Kommunisten nicht halten würden. Sein Irrtum brachte ihn ins Gefängnis.
„Die Geschichte ist ein Albtraum“, sagt Joyce. „Ich wollte Rumänien nie verlassen“, sagt Grigorcea.
Europa ist meine Flaniermeile
„Ich bin keine Exilantin – keine Geflüchtete. Ich habe keine Türen hinter mir zugeschlagen.“
Ihre Mutter studierte Arabisch, erwarb orientalische Verbindungen. Das führte dazu, so sagt es Grigorcea wunderbar, „dass uns die europäische Kultur via Bagdad erreichte.“
„Wir bezogen unsere europäischen Informationen aus einer arabischen Filiale.“
„Der Orient war ein Eldorado.“
Grigorcea studierte in Bukarest Niederländisch und Deutsch. Seit 2004 schreibt sie auf Deutsch, um über das rumänische Sprachghetto hinaus einfach wahrgenommen werden zu können.
„Ich will mich nicht isolieren.“
Grigorcea findet ein schönes Beispiel für die Krux von Übersetzungen. Eine Übersetzerin habe aus Star Diva gemacht.
„Plötzlich flanierte eine Diva durch eine angesagte Gegend von Zürich, wo im Original ein Vogel fliegt.“
Die Übersetzerin sei zehn Jahre jünger gewesen und dieser Abstand habe ausgereicht, um den Text in der Übersetzung noch einmal neu entstehen zu lassen. In dem Kollaborationsprodukt „war die Natur aus der Stadt verschwunden. Es kamen nur noch Cafés vor.“