Glänzender Paria
Stéphane Mallarmé unterscheidet Dichter, die Leute, Dinge und Szenen beschreiben, von solchen, die sich für die Frage qu'est-ce que ça veut dire interessieren. Die Frage entspricht einem oppositionellen Reflex. Das Gespräch über die Psychologie der Dinge ist ein Absonderungsprodukt. Die Künstler:innen in Mallarmés Milieu verlieren gerade ihre bürgerliche Fasson. Als Flaneur:innen werden sie zu glänzenden Parias. Sie exilieren in die Kunst und hassen die Bourgeoisie, deren Geschöpfe sie trotzdem bleiben.
Adam Zagajewski, „Poesie für Anfänger“, Essays, aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Edition Akzente Hanser, 24,-
Der Typus verachtet den Gesellschaftsmotor Industrialisierung. Er besteht auf l'art pour l'art. Er führt sein Leben beinah frei von Erschütterungen. Globale Verwerfungen streifen ihn auf dem Weg zu einer abgewendeten Kasernierung.
Stiller Hochmut
Ich folge Adam Zagajewskis Einlassungen zu Rilkes Leben & Werk. Zagajewski beschreibt einen in „stiller Hochmut (befangenen) Aspiranten für höhere Sphären“; eine von Lächerlichkeit bedrohte Figur am Rand eines pittoresken Schlossherrinnen-Aufkommens. Verdammt zu biografischen Erfindungen und Stilisierungen.
Rilke startet als Zögling in den Habsburger Militärschulen St. Pölten und (Musils Erziehungsknast) Mährisch-Weißkirchen. 1891 erlöst ihn ein Attest. So kurios es klingt, Rilke passiert danach nur noch einmal etwas, das ihn aus der Dichterbahn wirft. 1915 trifft den Vierzigjährigen die Einberufung. Nach ein paar Wochen Drill kommandiert man ihn ab zu einer zivilen Tätigkeit in einem Kriegsarchiv. Stefan Zweig begegnet Rilke da als ein anderer Zivildienstleistender.
Im nächsten Aufsatz erinnert Zagajewski an Józef Czapski (1896 – 1993)
Im Gegensatz zu Rilke wird Czapski von Umbrüchen schwer mitgenommen. Unter anderem überlebt er das Sonderlager Starobelsk, eine vom Innenministerium der UdSSR in einem ukrainischen Kloster unterhaltenes Gefängnis für polnische Offiziere.
„Józef Czapski war ein polnischer Autor und Maler in der Nachfolge des Fauvismus und von Paul Cézanne.“ Wikipedia
Zagajewski schildert Czapski als einen in jeder Hinsicht überragenden Akteur. Er zählt zig Rollen auf, in denen der Betrachtete glänzt. Sein Werk erfülle Virginia Woolfs Forderungen, „Granit und Regenbogen“ gleichermaßen sein zu müssen. Als Kriegsgefangener hielt Czapski Vorträge über Proust. In einer Wüste der Hoffnungslosigkeit beschwor er die Marottenlust des idiosynkratisch-verwöhnten Franzosen herauf.
Der erste Vergleich trifft Goethe & Rilke. Der eine strotzt im Fett seiner Patriziergewissheiten. Er „erneuert die deutsche Einbildungskraft“. Der andere erfindet sich einen Stammbaum und erdichtet sich seine Bedeutung. Der Essayist wähnt Rilke auf einer „unbändigen Jagd nach Erfüllung“.
Geografie als Schicksal
Zagajewski bemerkt das Verhältnis von Peripherie und Zentrum auch in Goethes biografischer Geografie. Frankfurt und Weimar sind epochale Hotspots. Noch in der Topografie spiegelt sich Goethes titanische Geltung.
„Des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben“ Goethe in einem Brief an den Maler und Freund Johann Heinrich Meyer, 30. Dezember 1795
„Im Haus am Frauenplan lebte und wirkte Goethe seit seinem Einzug als Mieter 1782 fast 50 Jahre lang. Für den Dichter und Staatsmann sowie seine Familie war es weit mehr als eine Wohn- und Arbeitsstätte: Die nach seinen Kunstidealen und vielseitigen Interessen gestalteten Räume dienten der Geselligkeit und dem kulturellen sowie wissenschaftlichen Austausch. Neben Handschriften und Büchern fanden hier auch Goethes stetig wachsende Kunst- und naturwissenschaftliche Sammlungen Platz.“ Quelle: Goethes Wohnhaus
Zagajewski schildert Rilke als Obdachlosen, jedenfalls Unbehausten bis hin zur geografisch marginalen Herkunft. Zwar wurde Rilke in Prag geboren. Doch wurde er da als Österreicher geboren. Auf der Achse Wien - Prag war Prag inferior, während Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main eine altweltliche Potenz ersten Ranges darstellte.
Ich reite darauf nicht herum. Aber Zagajewski interessiert sich dafür. Goethe empfängt „Gäste aus den entlegensten Winkeln“; er hält Hof und er hält durch. Er hört nicht auf, präsidial zu wirken. Immer vor Kopf, stets in jedem Vorstand.
Rilke eiert vor sich hin. Er empfängt nicht, sondern muss selbst vorstellig werden und sich einladen lassen. Er ist „kein Minister wie Goethe. Kein Senator wie Yeats. Kein Diplomat wie Saint-John Perse“. Er begegnet auch keinem Staatsmann. Die Aristokraten, die zu seinen Gastgeber:innen werden, sind die Nachkommen von Champions League Spieler:innen. Ihre Vermögen verbinden sich nicht mehr mit politischer Macht.
Kalligrafisches Fragezeichen
Rilke repräsentiert seine Epoche nicht. Vielmehr wirkt er abgeschnitten; gefangen in einem Kokon des Eigensinns. Zagajewski schildert ihn als „kalligrafisches Fragezeichen am Rande der Geschichte“.
Der Essayist sieht einen Feind der Industrialisierung. Zagajewski spricht von dem Opfer, das Rilke mit eiserner Disziplin bringt. Der Dichter existiert in einem Wartesaal. Darin erwartet er die Ankunft seiner Gedichte, deren Natur er vorausahnt.
So schreibt ein Dichter über einen Dichter.
Aus der Ankündigung
Adam Zagajewski, der große polnische Dichter, begibt sich auf die ewige, nie abgeschlossene Suche nach dem Wesen der Dichtung.
Adam Zagajewski, der große polnische Lyriker und Essayist, stellt in diesem wunderbar luziden Band für ihn wichtige Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ein erstaunlich neues, zum Teil ganz persönliches Licht. Seine Essays über Czesław Miłosz, W.G. Sebald, Wisława Szymborska und viele mehr sind kleine Offenbarungen. Über das Werk, die Zeit und das Leben der Porträtierten. Aber auch über das eigene Schreiben und den Essay selbst, diese bedrohte Form, die wie keine andere die Beweglichkeit der Gedanken verteidigt. In feinster Prosa entspinnt Zagajewski seine Suche nach dem Wesen der Dichtung, nach ihren Bedingungen und ihrer Aufgabe.
Zum Autor
Adam Zagajewski, 1945 in Lemberg geboren und 2021 in Krakau gestorben, studierte Psychologie und Philosophie in Krakau. Er lehrte regelmäßig an der University of Chicago. Adam Zagajewski ist Autor zahlreicher Lyrik- und Essaybände sowie mehrerer Romane und wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Eichendorff-Literaturpreis (2014), dem Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste (2015), dem Leopold Lucas-Preis (2016), dem Jean Améry-Preis für Essayistik (2016), dem Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur (2017) und dem Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste (2019). Seit 2015 war Adam Zagajewski Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei Hanser erschienen zuletzt Verteidigung der Leidenschaft (Essays, 2008), Unsichtbare Hand (Gedichte, 2012), Die kleine Ewigkeit der Kunst (Tagebuch ohne Datum, 2014) und Asymmetrie (Gedichte, 2017). 2021 erscheint der Essayband Poesie für Anfänger.