Der erste Vergleich trifft Goethe & Rilke. Der eine strotzt im Fett seiner Patriziergewissheiten. Er „erneuert die deutsche Einbildungskraft“. Der andere erfindet sich einen Stammbaum und erdichtet sich seine Bedeutung. Der Essayist wähnt Rilke auf einer „unbändigen Jagd nach Erfüllung“.
Geografie als Schicksal
Zagajewski bemerkt das Verhältnis von Peripherie und Zentrum auch in Goethes biografischer Geografie. Frankfurt und Weimar sind epochale Hotspots. Noch in der Topografie spiegelt sich Goethes titanische Geltung.
„Des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben“ Goethe in einem Brief an den Maler und Freund Johann Heinrich Meyer, 30. Dezember 1795
„Im Haus am Frauenplan lebte und wirkte Goethe seit seinem Einzug als Mieter 1782 fast 50 Jahre lang. Für den Dichter und Staatsmann sowie seine Familie war es weit mehr als eine Wohn- und Arbeitsstätte: Die nach seinen Kunstidealen und vielseitigen Interessen gestalteten Räume dienten der Geselligkeit und dem kulturellen sowie wissenschaftlichen Austausch. Neben Handschriften und Büchern fanden hier auch Goethes stetig wachsende Kunst- und naturwissenschaftliche Sammlungen Platz.“ Quelle: Goethes Wohnhaus
Zagajewski schildert Rilke als Obdachlosen, jedenfalls Unbehausten bis hin zur geografisch marginalen Herkunft. Zwar wurde Rilke in Prag geboren. Doch wurde er da als Österreicher geboren. Auf der Achse Wien - Prag war Prag inferior, während Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main eine altweltliche Potenz ersten Ranges darstellte.
Ich reite darauf nicht herum. Aber Zagajewski interessiert sich dafür. Goethe empfängt „Gäste aus den entlegensten Winkeln“; er hält Hof und er hält durch. Er hört nicht auf, präsidial zu wirken. Immer vor Kopf, stets in jedem Vorstand.
Rilke eiert vor sich hin. Er empfängt nicht, sondern muss selbst vorstellig werden und sich einladen lassen. Er ist „kein Minister wie Goethe. Kein Senator wie Yeats. Kein Diplomat wie Saint-John Perse“. Er begegnet auch keinem Staatsmann. Die Aristokraten, die zu seinen Gastgeber:innen werden, sind die Nachkommen von Champions League Spieler:innen. Ihre Vermögen verbinden sich nicht mehr mit politischer Macht.
Kalligrafisches Fragezeichen
Rilke repräsentiert seine Epoche nicht. Vielmehr wirkt er abgeschnitten; gefangen in einem Kokon des Eigensinns. Zagajewski schildert ihn als „kalligrafisches Fragezeichen am Rande der Geschichte“.
Der Essayist sieht einen Feind der Industrialisierung. Zagajewski spricht von dem Opfer, das Rilke mit eiserner Disziplin bringt. Der Dichter existiert in einem Wartesaal. Darin erwartet er die Ankunft seiner Gedichte, deren Natur er vorausahnt.
So schreibt ein Dichter über einen Dichter.
Glänzender Paria
Stéphane Mallarmé unterscheidet Dichter, die Leute, Dinge und Szenen beschreiben, von solchen, die sich für die Frage qu'est-ce que ça veut dire interessieren. Die Frage entspricht einem oppositionellen Reflex. Das Gespräch über die Psychologie der Dinge ist ein Absonderungsprodukt. Die Künstler:innen in Mallarmés Milieu verlieren gerade ihre bürgerliche Fasson. Als Flaneur:innen werden sie zu glänzenden Parias. Sie exilieren in die Kunst und hassen die Bourgeoisie, deren Geschöpfe sie trotzdem bleiben.
Der Typus verachtet den Gesellschaftsmotor Industrialisierung. Er besteht auf l'art pour l'art. Er führt sein Leben beinah frei von Erschütterungen. Globale Verwerfungen streifen ihn auf dem Weg zu einer abgewendeten Kasernierung.
Stiller Hochmut
Ich folge Adam Zagajewskis Einlassungen zu Rilkes Leben & Werk. Zagajewski beschreibt einen in „stiller Hochmut (befangenen) Aspiranten für höhere Sphären“; eine von Lächerlichkeit bedrohte Figur am Rand eines pittoresken Schlossherrinnen-Aufkommens. Verdammt zu biografischen Erfindungen und Stilisierungen.
Rilke startet als Zögling in den Habsburger Militärschulen St. Pölten und (Musils Erziehungsknast) Mährisch-Weißkirchen. 1891 erlöst ihn ein Attest. So kurios es klingt, Rilke passiert danach nur noch einmal etwas, das ihn aus der Dichterbahn wirft. 1915 trifft den Vierzigjährigen die Einberufung. Nach ein paar Wochen Drill kommandiert man ihn ab zu einer zivilen Tätigkeit in einem Kriegsarchiv. Stefan Zweig begegnet Rilke da als ein anderer Zivildienstleistender.
Im nächsten Aufsatz erinnert Zagajewski an Józef Czapski (1896 – 1993)
Im Gegensatz zu Rilke wird Czapski von Umbrüchen schwer mitgenommen. Unter anderem überlebt er das Sonderlager Starobelsk, eine vom Innenministerium der UdSSR in einem ukrainischen Kloster unterhaltenes Gefängnis für polnische Offiziere.
„Józef Czapski war ein polnischer Autor und Maler in der Nachfolge des Fauvismus und von Paul Cézanne.“ Wikipedia
Zagajewski schildert Czapski als einen in jeder Hinsicht überragenden Akteur. Er zählt zig Rollen auf, in denen der Betrachtete glänzt. Sein Werk erfülle Virginia Woolfs Forderungen, „Granit und Regenbogen“ gleichermaßen sein zu müssen. Als Kriegsgefangener hielt Czapski Vorträge über Proust. In einer Wüste der Hoffnungslosigkeit beschwor er die Marottenlust des idiosynkratisch-verwöhnten Franzosen herauf.
Ira Klinkenbusch untersucht in ihrem Aufsatz Bruderpaar der Literatur das Klischee vom scharfkantigen Gegensatz der Brüder Heinrich und Thomas Mann. Im Gegensatz zu Klinkenbusch bearbeitet Zagajewski überkommene Bildern von einer affektiven Unversöhnlichkeit, die nur unter dem Druck des Exils gemildert werden konnte. Hitler brachte die Brüder zwar zusammen, sorgte aber nicht für Nähe. Ich glaube, dass Heinrich und Thomas sich bis zum Schluss nicht riechen konnten. In Kalifornien bewahrten sie sich vor den Peinlichkeiten offen ausgetragener Gegnerschaft in den Rüstungen eisiger Höflichkeit. Nun war Heinrich bekanntlich inferior bis zum Abwinken und hatte in seiner Frau Nelly* keine Verstärkung im Kampf gegen den Klan.
*„Nelly Mann ... kam aus einfachsten sozialen Verhältnissen und geriet durch ihre Verbindung mit dem Schriftsteller Heinrich Mann in die betont standesbewusste Familie um den Nobelpreisträger Thomas Mann. Sie scheiterte in ihrem Kampf um Selbstbehauptung und Anerkennung in diesem großbürgerlich-intellektuellen Umfeld.“ Wikipedia
Kalifornische Verbannung
Er verliert die Ansprüche eines Erstgeborenen an den Erfolg des jüngeren Bruders. Heinrich schöpft aus dem vollen Bohemienbrunnen im Einklang mit den Kräften der Zukunft. Der alltäglichste Asphalteros ist ihm ein ewiges Wedekind'sches Frühlings Erwachen; während sein Gegenteil merkwürdig förmlich bleibt und die Konventionen als bürgerliches Bollwerk feiert.
Wer weiß, wo Thomas Mann politisch ohne Hitler gelandet wäre. Er war ein Verspäteter in mancher Hinsicht. Reich-Ranicki hielt das Werk für den Höhepunkt des literarischen 19. Jahrhunderts.
Im Exil liegen die Verhältnisse schließlich so, dass Heinrich vom Vergessen bedroht wird und in der Rolle eines Alimentierten seelisch auf Grund läuft. Seine Partnerin, „eine Person der unteren Schichten“, passt nicht ins Bild der Edelemigrant:innen rund um den Meister vom Zauberberg in der „kalifornischen Verbannung“.
Zagajewski erzählt das mit großer Sympathie für den Underdog Heinrich. Er schildert die Geschwisterspannung mit einer nicen Ratlosigkeit angesichts des Gefälles. Der Jüngere agiert als „Liebling des Schicksals“ und „Nachahmer Goethes“ ungemein theatralisch und weit weniger charmant als der aufgeknöpfte Heinrich mit seiner Bonvivant-Konzilianz.
Zündkörper der Erinnerung
Siehe ferner Textland | Adam Zagajewski - Titanische Geltung
„Kein Wort steht still, sondern es rückt immer durch den Gebrauch von seinem anfänglichen Platz, eher hinab als hinauf, eher ins Schlechtere als ins Bessere, ins Engere als Weitere, und an der Wandelbarkeit des Wortes lässt sich die Wandelbarkeit der Begriffe erkennen.“ Goethe
*
Solange wir Einfluss auf das Geschehen der Welt haben, entstehen aus Widersprüchen Räume. Adam Zagajewski liefert ein schönes Beispiel. Der Heranwachsende erwägt im Zustand der Befreiung 1945 einen Rachefeldzug gegen die Deutschen.
„Als Kind hasste ich die Deutschen ... und schmiedete sogar Pläne eines schnellen militärischen Rachefeldzug.“
Gleichzeitig lässt er sich von deutschen Literatur einnehmen. Die Kontraktion erlebt er als einen erfreulichen Vorgang. Die intelligente Reaktion im Vergleich (zu einem stumpfen Verdammen im Rahmen einer falschen Widerspruchsfreiheit) möbelt ihn auf. Der Debütant entgeht der Fremdbestimmung in eigenwillige Verknüpfungen.