Gesellschaftliche Bedeutungsbreitseite
Der Heranwachsende weidet auf den Almen und in den Auen erotischer Märchen. Seine Phantasie entzündet sich an der sagenhaften Madame de Guermantes.
„Wie oft habe ich mir diese Geschichte erzählt! Madame de Guermantes sagte mir da solche Zärtlichkeiten, dass ich nicht aufhören konnte, es ihr ... zu danken.“
Der Debütant sieht sich befasst mit einem „inneren Roman“, einem echten Schinken im Stil der Abenteuer-Schoten; „unergiebig und ohne Wahrheit“.
Proust zählt die Stunden, in denen er nicht an Madame de Guermantes denkt, und die Tage, an denen er sie nicht sieht. Unter dem „Mikroskop seines Schmerzes“ wuchern die Metastasen der Imponderabilien. Der Genießer fragwürdiger Freuden weiß, dass die Angebetete keinen Gedanken an ihn verschwendet. Er tritt das Missverhältnis breit und verknüpft die Girlanden der Vergeblichkeit mit einem Kirschblütenfest hier und da mit einem Strauß „junger Bäusche von Flieder ... in ihrer frischen lila Toilette, die sich von der Brise wiegen lassen“.
Das Regime der Krankheiten
„Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus Tugend machen: aber ich durchschaue euer Selbstloses ... Aber du fürchtest dich und läufst zu deinem Nächsten.“ Nietzsche
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Der Künstler als Knabe gibt in der Sommerfrische den abgebrühten Beobachter. Er bemerkt „unfreundliche“ Hügel am Strand von Balbec. Den Bahnhofsvorsteher verortet er „zwischen Tamarisken und Rosen“. Er lächelt auf den „künstlichen Marmor“ der Monumentaltreppe im Grandhotel seines Aufenthalts herab. Den Direktor, „ein Fettwanst im Smoking“, verdächtigt er „einer kosmopolitischen Kindheit“.
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„Nicht das ‚Ich’ setzt sich zuerst ... sondern das ‚Nicht-Ich’ ... als der Halt gebende und bergende Widerstand ... Der ‚haltende’ Widerstand des Anderen ist älter als das ‚gegen’ dieses ‚Andere’ geborene ‚Ich’.“
Diese Klärung von Horst Tiwald bestätigt Marcel Proust auf jeder Seite der ausufernden Vorzeichnungen zur Recherche. Ohne die umfassende Gegenwart naher Verwandter droht das Kind augenblicklich zu erlöschen. In der Sommerfrische dient eine Großmutter als Ambulanz gegen die Panik. Es steht nicht zu befürchten, das sie mit der Unwillkürlichkeit einer Ahnungslosen Schäden am Enkel anrichtet.
Die Ahne verabredet mit dem vielschichtig Leidenden eine Reihe von emergency measures, darunter so archaische wie Klopfzeichen. Die Stunden der Abgeschiedenheit im Bett stellen für sich genommen bereits einen Notfall dar. Im Regime der Krankheiten ist Marcel fern der Mutter stets nah dem Tod. Der Schlaf bringt die Gespenster der Angst.
„Ein Verständliches muss dem Verstande gegeben sein, und er versteht es nur durch Unterscheidung. Das Unterschiedene aber muss er verbinden; sonst kam er nicht zum Verstande des Ganzen.“ Johann Gottfried Herder
Der Erzähler verkörpert eine ideale Fin de siècle-Figur. Er erscheint als geborener Snob in einer Umgebung, die sich an seinen Extravaganzen nicht stößt.
Das Hotel in Balbec beherbergt Provinzfürsten, auf die Marcel herabzusehen geneigt ist. Mit seiner falschen Marmorempore entbehrt das Haus jene Pariser Herrlichkeit, die außer Marcel vor Ort keiner entbehrt. Altmeisterlich charakterisiert der Erzähler den Typus und seine Varianten.
Er würde sich lieber „in einer vornehmeren Gesellschaft ... präsentieren ... als in der (seiner) Großmutter“, die ihre Sparsamkeit zur Schau stellt und so den Enkel beschämt.
Vorläufige Endgültigkeit/Solide Hinfälligkeit
„Die Sprache wird zum ‚Nervensystem der Menschheit’.“ Horst Tiwald
„Der Edle lässt das, was er nicht versteht, ... beiseite. Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande.“ Konfuzius
Jede Trennung von der Mutter verschärft die Dauerkrise des Daseins. Die ständige Atemnot und eine solide Hinfälligkeit signieren einen Zustand, dessen Ladungen nur mit komplizierten Narrativen gesichert werden können. Die fadenscheinigste Normalität hält wie eine zu kurze Decke notdürftig her. Das kranke Kind entgeht allein in der Gegenwart der zu äußerster Fürsorge entschlossenen, restlos alarmierten und in permanenter Bereitschaft gehaltenen Mutter der Panik eines Ertrinkenden. Falls sich eine Unterbrechung der Symbiose nicht abwenden lässt, treten Vorkehrungen in Kraft, die das schlafende Genie mit doppelten Belichtungen herausfordern. Die Mutter verabschiedet sich zu einem so frühen Zeitpunkt, dass dem Abschied wenigstens eine Dimension fehlt; so dass die vorläufige Endgültigkeit sich wie in einem Jahrmarktsschwindel auflöst. Man ist eben erst auf dem Bahnsteig angekommen; der Zug fährt noch gar nicht ab. Die Frist wirkt als Puffer. Erst als der halbwüchsige Erzähler seinen Platz im Coupé einnimmt, beweist sich die Abwesenheit der Mutter „in einem Moment ohnmächtiger Klarsicht“ als unabweisbare Tatsache. Der Mutter als Ersatz dient eine Großmutter. Mit ihr reist Marcel in die Ferien.
„Meine Mutter, die mich mit meiner Großmutter nach Balbec schickte und allein in Paris zurückblieb, konnte sich denken, wie verzweifelt ich war, sie verlassen zu müssen; sie beschloss deshalb, uns lange im Voraus ... Adieu zu sagen.“