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2021-04-16 05:38:30, Jamal Tuschick

Mammut der Moderne

Wir können nicht über die Kunst schreiben, ohne uns auf die Schönheit zu berufen.“ Adam Zagajewski

Die Vorzeichnungen zur Recherche erscheinen in Feuilletons. Zehn Jahre nimmt Proust Anlauf, bevor er den Mammut der Moderne in Personalunion zeugt und gebiert. Die ersten Skizzen publiziert der Meister aller Klassen 1912/13 im Figaro. Die Vorproduktion trägt den Titel Der gewendete Tag. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in den Vorabdrucken. Damit beschäftigen wir uns nun.

Beim Anblick einer Blume wird das Kind wiedergeboren, das sie einst zum ersten Mal sah. So beginnt das erste Stück im Vorgriff auf die Proust'schen Madeleines. Das erzählende Ich assoziiert Weißdorn mit den Mysterien einer Marienandacht vor langer Zeit. Die Initialzündung eines frühen Wahrnehmungsrauschs öffnet in ihm eine Tür.

Nuklearer Nukleus

„Man kann Bücher nicht erschießen.“ Amos Oz

Warum Erzählungen wichtig sind, belegt dieses Beispiel. Auf Okinawa wurde eine Kata mit der Legende versehen, sie stamme von einem Schiffbrüchigen, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Tomari/Tomari gestrandet sei. Er habe sich auf einem Friedhof eingerichtet und sich auf die schiefe Bahn nächtlicher Überfälle begeben. Um dem Treiben ein Ende zu bereiten, sei die bedeutende Schranze Matsumura Sōkon vom König persönlich losgeschickt worden sein. Jedoch konnte der Ritter den Räuber im Zweikampf nicht überwinden. Fragt mich nicht, warum der Polizeieinsatz so förmlich über die Bühne gegangen sein soll. Gewiss entsprach es keiner ständigen Praxis, Verbrecher:innen die Ehre eines Duells anzutragen. Im Folgenden ergründete der Verlierer das Geheimnis der Überlegenheit als Schüler des Delinquenten. Angeblich hieß der chinesische Experte Chintō. So heißt jedenfalls die Kata, von der ich rede. Zu jenen, die sie tradierten, zählen im historischen Präsens Gusukuma Shiroma, Matsumora Kōsaku, Oyadomari Kōkan und eben der von einem Strauchdieb genickte Premiumhäscher.

„Heute fragt man sich, warum ein so hoch gestellter Beamte und berühmter Kampfkunstexperte wie Matsumura Sōkon einen solch niedrigen Auftrag direkt vom König bekam. Vermutungen liegen nahe, dass Matsumura Sōkon die Chintō von Matsumora Kōsaku aus Tomari lernte, sie aber Kraft seines Amtes mit einem anderen Ursprung belegte. Die Politik der damaligen Gesellschaft ist heute nicht mehr durchschaubar.“ Wikipedia

Der Eintrag bringt einiges auf den Punkt. Die Deutungshoheit liegt einmal wieder bei dem Autor mit der besten Story. Matsumura Sōkon weiß, wie man Glaubwürdigkeit erntet. Unverfroren tritt er als Loser auf, der seine Position pimpt, indem er den Wissensrahm eines versprengten Haudegens abschöpft. Im weiteren Verlauf gehen Chintōs Gong-fu-Ziselierungen durch die Okinawa-Presse und erfahren die oft besprochene Ki-Do-Transition im Geist einer Abhärtungslogik.

Das Regime der Krankheiten

Gesellschaftliche Bedeutungsbreitseite

Der Heranwachsende weidet auf den Almen und in den Auen erotischer Märchen. Seine Phantasie entzündet sich an der sagenhaften Madame de Guermantes.

„Wie oft habe ich mir diese Geschichte erzählt! Madame de Guermantes sagte mir da solche Zärtlichkeiten, dass ich nicht aufhören konnte, es ihr ... zu danken.“

Der Debütant sieht sich befasst mit einem „inneren Roman“, einem echten Schinken im Stil der Abenteuer-Schoten; „unergiebig und ohne Wahrheit“.
Proust zählt die Stunden, in denen er nicht an Madame de Guermantes denkt, und die Tage, an denen er sie nicht sieht. Unter dem „Mikroskop seines Schmerzes“ wuchern die Metastasen der Imponderabilien. Der Genießer fragwürdiger Freuden weiß, dass die Angebetete keinen Gedanken an ihn verschwendet. Er tritt das Missverhältnis breit und verknüpft die Girlanden der Vergeblichkeit mit einem Kirschblütenfest hier und da mit einem Strauß „junger Bäusche von Flieder ... in ihrer frischen lila Toilette, die sich von der Brise wiegen lassen“.
Das Regime der Krankheiten

„Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus Tugend machen: aber ich durchschaue euer Selbstloses ... Aber du fürchtest dich und läufst zu deinem Nächsten.“ Nietzsche

*

Der Künstler als Knabe gibt in der Sommerfrische den abgebrühten Beobachter. Er bemerkt „unfreundliche“ Hügel am Strand von Balbec. Den Bahnhofsvorsteher verortet er „zwischen Tamarisken und Rosen“. Er lächelt auf den „künstlichen Marmor“ der Monumentaltreppe im Grandhotel seines Aufenthalts herab. Den Direktor, „ein Fettwanst im Smoking“, verdächtigt er „einer kosmopolitischen Kindheit“.

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„Nicht das ‚Ich’ setzt sich zuerst ... sondern das ‚Nicht-Ich’ ... als der Halt gebende und bergende Widerstand ... Der ‚haltende’ Widerstand des Anderen ist älter als das ‚gegen’ dieses ‚Andere’ geborene ‚Ich’.“
Diese Klärung von Horst Tiwald bestätigt Marcel Proust auf jeder Seite der ausufernden Vorzeichnungen zur Recherche. Ohne die umfassende Gegenwart naher Verwandter droht das Kind augenblicklich zu erlöschen. In der Sommerfrische dient eine Großmutter als Ambulanz gegen die Panik. Es steht nicht zu befürchten, das sie mit der Unwillkürlichkeit einer Ahnungslosen Schäden am Enkel anrichtet.

Die Ahne verabredet mit dem vielschichtig Leidenden eine Reihe von emergency measures, darunter so archaische wie Klopfzeichen. Die Stunden der Abgeschiedenheit im Bett stellen für sich genommen bereits einen Notfall dar. Im Regime der Krankheiten ist Marcel fern der Mutter stets nah dem Tod. Der Schlaf bringt die Gespenster der Angst.

„Ein Verständliches muss dem Verstande gegeben sein, und er versteht es nur durch Unterscheidung. Das Unterschiedene aber muss er verbinden; sonst kam er nicht zum Verstande des Ganzen.“ Johann Gottfried Herder

Der Erzähler verkörpert eine ideale Fin de siècle-Figur. Er erscheint als geborener Snob in einer Umgebung, die sich an seinen Extravaganzen nicht stößt.

Das Hotel in Balbec beherbergt Provinzfürsten, auf die Marcel herabzusehen geneigt ist. Mit seiner falschen Marmorempore entbehrt das Haus jene Pariser Herrlichkeit, die außer Marcel vor Ort keiner entbehrt. Altmeisterlich charakterisiert der Erzähler den Typus und seine Varianten.

Er würde sich lieber „in einer vornehmeren Gesellschaft ... präsentieren ... als in der (seiner) Großmutter“, die ihre Sparsamkeit zur Schau stellt und so den Enkel beschämt.

Vorläufige Endgültigkeit/Solide Hinfälligkeit

„Die Sprache wird zum ‚Nervensystem der Menschheit’.“ Horst Tiwald

„Der Edle lässt das, was er nicht versteht, ... beiseite. Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande.“ Konfuzius

Jede Trennung von der Mutter verschärft die Dauerkrise des Daseins. Die ständige Atemnot und eine solide Hinfälligkeit signieren einen Zustand, dessen Ladungen nur mit komplizierten Narrativen gesichert werden können. Die fadenscheinigste Normalität hält wie eine zu kurze Decke notdürftig her. Das kranke Kind entgeht allein in der Gegenwart der zu äußerster Fürsorge entschlossenen, restlos alarmierten und in permanenter Bereitschaft gehaltenen Mutter der Panik eines Ertrinkenden. Falls sich eine Unterbrechung der Symbiose nicht abwenden lässt, treten Vorkehrungen in Kraft, die das schlafende Genie mit doppelten Belichtungen herausfordern. Die Mutter verabschiedet sich zu einem so frühen Zeitpunkt, dass dem Abschied wenigstens eine Dimension fehlt; so dass die vorläufige Endgültigkeit sich wie in einem Jahrmarktsschwindel auflöst. Man ist eben erst auf dem Bahnsteig angekommen; der Zug fährt noch gar nicht ab. Die Frist wirkt als Puffer. Erst als der halbwüchsige Erzähler seinen Platz im Coupé einnimmt, beweist sich die Abwesenheit der Mutter „in einem Moment ohnmächtiger Klarsicht“ als unabweisbare Tatsache. Der Mutter als Ersatz dient eine Großmutter. Mit ihr reist Marcel in die Ferien.

„Meine Mutter, die mich mit meiner Großmutter nach Balbec schickte und allein in Paris zurückblieb, konnte sich denken, wie verzweifelt ich war, sie verlassen zu müssen; sie beschloss deshalb, uns lange im Voraus ... Adieu zu sagen.“

Aus der Ankündigung

Die «Recherche» en miniature

Zum 150. Geburtstag des großen französischen Romanciers am 10.7.2021 erscheint hier ein Destillat von Prousts siebenbändigem Hauptwerk in Neuausgabe. Darin begegnet man bereits den Guermantes und Verdurins, Albertine und vielen anderen bekannten Figuren aus dem Proust-Kosmos, oft in überraschender Beleuchtung und reizvoller Akzentuierung. Bei «Der gewendete Tag» handelt es sich um ein Mosaik aus neunzehn Prosastücken, die von 1912 bis 1923 in Zeitschriften erschienen und «Die Suche nach der verlorenen Zeit» eindrucksvoll vorbereiten und ergänzen. In der kongenialen Übersetzung von Christina Viragh und Hanno Helbling bietet dieser spezielle Band Kennern wie Entdeckern einen komprimierten Proust.

«Keine schönere Einladung zur Lektüre Prousts scheint denkbar als diese von ihm selbst ausgewählten Begegnungen eines vielschichtigen Bewusstseins mit einer unendlich genau erfassten Wirklichkeit.» Karlheinz Stierle, NZZ

Zum Autor
Marcel Proust (1871-1922) wuchs in Paris auf und studierte dort Jura, war aber nur kurze Zeit als Anwalt tätig, da er als Sohn eines wohlhabenden Arztes finanziell unabhängig war. Er verkehrte in den Pariser Salons und führte das mondäne Leben eines Dandys, bis er im Alter von 35 Jahren wegen seines schlimmen Asthmaleidens zum Rückzug aus der Gesellschaft gezwungen war. In der Einsamkeit seiner Wohnung am Boulevard Haussmann verdichtete er seine Beobachtungen und Erlebnisse zu seinem Hauptwerk «A la recherche du temps perdu» (7 Teile, erschienen 1913-1927), das er erst wenige Monate vor seinem Tod beendete. Marcel Proust, 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, gilt neben Joyce und Kafka als Begründer der literarischen Moderne.