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2021-05-18 06:10:59, Jamal Tuschick

Kloaken des kollektiven Bewusstseins

„An jenem verhängnisvollen 2. August 1914 stürmte ich hinauf in mein Zimmer und zerfetzte in einem Anfall patriotischen Überschwangs meine deutsche Grammatik – (auch) in der Hoffnung, für immer erlöst zu sein von diesem verwünschten Buch.“

*

Der Knabe vergisst nicht, seinen Stolz zu reklamieren, da er den deutschen Feind nicht aus der Ferne einer unberührten Gegend erlebt, sondern an der Pariser Front der Mobilisierung. Die Urenkelkohorten der Grande Armée defilieren in roten Hosen und blauen Röcken; in Uniformen (und mit Kriegsbegriffen) des 19. Jahrhunderts, „die sie zu lebenden Zielscheiben für die deutschen Kugeln machen. Die Soldaten singen aus voller Kehle ...“ In den volkstümlichen Mundarten der Großstädter versprechen sie ihre Heimkehr in naher Zukunft.

Sie haben keine Ahnung.

Die Regierung weiß es besser. Sie setzt sich nach Bordeaux ab; doch „mein Vater (ist) unverbesserlicher Optimist; er (weigert) sich zu glauben, Paris könne eingenommen werden ... es (gibt) keine Taxis, alle Fahrzeuge (sind) requiriert“; in der Sommerfrische weilende Bürger:innen finden es unnötig, wegen des Kriegs ihre Ferien abzukürzen.

Bestechend erinnert

Die meisten Texte verlieren ihre literarische Lesbarkeit an die Zeit. Sie verwittern erst und verstummen dann wie alte Leute, die sogar ihr Geschwätz vergessen haben. Viele Romane und Erzählungen bleiben noch nicht einmal als Quellen interessant. Unbemerkt erlitten sie den Schock der Zeit. Manche Sachen gewinnen unter ihrer Patina neue Qualitäten. Indem man sie liest, liest man sie wieder, auch wenn man sie zum ersten Mal liest. Als Parteigängerinnen unserer Gegenwart teilen wir die Ernten aus den Kloaken des kollektiven Bewusstseins. Das fällt mir ein, während ich Julien Green (1900 - 1998) in das von ihm vor Jahrzehnten bestechend erinnerte Jetzt seiner Pariser Kindheit folge. Der Knabe vergisst nicht, seinen Stolz zu reklamieren, da er den deutschen Feind nicht aus der Ferne einer unberührten Gegend erlebt, sondern an der Pariser Front der Mobilisierung.

Den vorübergehenden Verlierer:innen steht der Sinn nicht nach pathetischen Gesten. Sofern sie verreist sind, halten ihre Concierges die hauptstädtischen Stellungen. Green überliefert das Detail ohne eine Idee von seiner historischen Bedeutung. Die zurückgelassenen Hausmeister:innen haben für ihn keine Symbolkraft.

„Man spottet in Paris gern über die Concierges, doch stets werden sie zurückgelassen und müssen sich der deutschen Armee stellen mit Besen und Federwisch als einzige Waffen.“

Julien Green, „Erinnerungen an glückliche Tage“, Roman, auf Deutsch von Elisabeth Edl, Carl Hanser Verlag, 22,-

Der Autor findet die Subalternen „vor allem mutig“. Er harrt gemeinsam mit seiner Mutter in der Pension Mouton aus. Die expatriierte Southern Belle und ihr Sohn sind die einzigen Gäste.

Sie haben die Absteige, Green erwähnt eine irreführend schmale Fassade, „für (sich) allein und (warten), daß die Nachrichten ein wenig besser würden“.

Dem Abgang der Pariser:innen in rurale Lagen schwappt eine Flüchtlingswelle entgegen. Provinzler:innen aus den besetzten Gebieten strömen in ihre Kapitale wie in eine Kathedrale.

Green schildert die Stadien des Ersten Weltkrieges pointillistisch. Eines Tages wirft eine Taube über der Avenue de l’Alma eine Bombe ab, die einen alten Mann und ein kleines Mädchen tötet.

Tanzende Möbel - Was zuvor geschah

Als Kind hielt Green Frankreich für eine glänzende Person. - „Natürlich dachte ich immer an Frankreich.“

Er wächst in Möbeln der Antebellum-Ära auf. Der Eleve verkrümelt seine Madeleines auf „um 1850 bei Herter in New York“ geschreinerten Stühlen. Ursprünglich erfüllten sie die Komfort- und Prestigeerwartungen des Sklavenhalteradels im alten US-Süden. Im Vorgriff auf die lange Phase eines eher trostlosen Danach schwärmt Greens kindliches Ich von einer in Lehnen geschnitzten Flora. Das wäre weniger bemerkenswert, stünden die Sachen sonst wo in Amerika.

Sie stehen aber zuerst in der Pariser Rue de Passy „nur ein paar Schritte vom Bois de Boulogne“ entfernt. Da bieten „die verschnörkelten Lehnsessel, die langen Sofas mit ihren sinnlichen Kurven aus der Zeit vor dem Sezessionskrieg (den) französischen Augen einen grauenerregenden Anblick“; während die Bewohner:innen in den historisch gravierenden Importen „Meisterwerke des guten Geschmacks“ erkennen. Sie verehren ihre Rosenholzstühle, „der Name dieses Holzes entzückt uns ebenso wie die geschnitzten Blumensträuße“.

Die Möbel haben „etwas Frivoles und Verantwortungsloses ... als wollten sie sich auf irgendeine seltsame Weise erheben und Walzer tanzen“.

Die Nachbarn beherbergen lediglich Tische und Stühle „im konventionellsten Louisseize-, Empire- oder Louis-Philippe-Stil“. Das Haus stammt aus der ersten Napoleon-Ära und ist mit dem Kaiseradleremblem markiert. Das Bürgerliche triumphiert auf allen Etagen. Es wird auch von den Amseln im obligatorisch vorstehenden Kastanienbaum begrüßt. Darüber lässt sich der Erzähler aus. Er wirft den Schatten der Narration auf den goldenen Glanz der Kindheit.

Viktorianische Gotik

Der Künstler als Knabe empfindet ein animalisches Glück vor dem Kamin; „ein köstliches Gefühl von Wohligkeit“, das ihm später stets vorenthalten bleiben wird. Julien badet in Trouvailles. Er erforscht den Knick im Kissen. Die Mutter umgarnt ihn mit einem „Wollshawl“. Sie ist das Zentrum, ihr Schoss ein umkämpfter Gipfel.

„Meine … Mutter kam aus Savannah, Georgia, und mein Vater aus Prince William County, Virginia“. Ist die Mutter auf Krawall gebürstet, schlägt sie mit dem Wissen aus „in Kalbsleder gebundenen Bänden der … Archive der Konföderierten Staaten“ auf ihren Mann ein. Die Überragende erzählt von Farben und Formen der viktorianischen Gotik ihrer Southern Belle-Kindheit in Savannah. Eine Schwester leidet unter Albträumen, „die ihre Nerven zerrütten“.

Lucy sieht Gespenster. Ihre Geschwister steigen ein und überbieten sich in Spukschoten. Den prosaischen Eltern unterstellen sie, nicht mit der Gabe des Sehens gesegnet zu sein.

Der Vater geht auf die Gespenster mit dem Revolver los. Er verzweifelt an den lustvollen Angstphantasmagorien der Nachkommen. Die Schaueratmosphäre entsteht wie von selbst in der Ancien Régime-Atmosphäre.

Old Green macht in Öl. Er verkörpert die Zukunft fossiler Brennstoffe.

Southern Belle in Paris - Nicht schön, aber bezaubernd

Die Mutter erscheint als Southern Belle in Paris. Sie nimmt den Knaben mit zu ihrer besten Freundin, Agnes Farley, „die in einer ernsten, dunklen Wohnung in der Rue de la Paix lebt“.

„Wir stolperten ein finsteres Treppenhaus hinauf, bevor wir in einen Salon geführt wurden, der nach Zigarrenqualm roch. Eine Büste Cäsars ...“

Die Irin Agnes spricht mit einem charmanten Akzent Französisch, raucht ununterbrochen. Sie nimmt Julien ein, indem sie mit ihm wie mit einem Erwachsenen spricht. Sie siezt ihn und befragt das Kind zum Eisenbahnerstreik. Dem Arbeitskampf drohen militärische Entgegnungen.

„Halten Sie es für richtig, daß Briand Soldaten aufmarschieren ließ? Nein, natürlich nicht. Sie sind ein vernünftiger Franzose mit liberalen Ideen.“

Agnes zeigt grundsätzlich keine Gewöhnlichkeit. Sie macht sich nicht gemein. Sie empfiehlt Bücher in der Gewichtsklasse von Tristram Shandy. Ihre Erziehung zur Mündigung paart sich mit leisem Spott. Der Nachwuchsbeobachter entdeckt die Merkwürdigkeit eines bezaubernden Wesens, das von einer wenig einnehmenden Erscheinung kaschiert wird. Er staunt „über die unverhoffte Schönheit der Welt“.

Aus der Ankündigung

Die Kindheit eines kleinen amerikanischen Jungen in Paris, am Beginn des 20. Jahrhunderts. Julien Green lässt in seinen Erinnerungen die "Belle Époque" auferstehen: das Klappern der Pferdehufe auf dem Pflaster, den Alltag ohne Radio und Telefon, die Schrecken eines strengen, unmenschlichen Schulsystems und die Geborgenheit in der bürgerlichen Familie. Erst als Frankreich in den Ersten Weltkrieg zieht, bricht auch für ihn ein neues Zeitalter an. Ein wunderbares Buch über eine versunkene Welt: Zeitdokument, Entwicklungsroman, Hymnus auf das Glück der Kindheit und ein großes Lesevergnügen.

Julien Green wurde 1900 als Sohn einer amerikanischen Familie in Paris geboren, wo er 1998 starb. Bei Hanser erschien das erzählerische Werk, zuletzt in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl: Adrienne Mesurat (Roman, 2000), Fremdling auf Erden (Erzählungen, 2006), die Erinnerungen an seine Kindheit Erinnerungen an glückliche Tage (2008) und sein letzter Roman Der Unbekannte (2011).