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2018-10-25 10:29:08, Jamal Tuschick

Die Geschichte der Gastarbeit in Osthessen VI. Folge

Die Unabhängigkeitsstatur des alten Lasen

Der auf einem osthessischen Knick in einer Enge zwischen Thüringen und Franken ansässige Unternehmer Amiran Vanilisi beschäftigt fast ausschließlich Migranten in seiner Fabrik für Schuhbodenteile. Seine Vorfahren flohen von einem Ufer zum anderen aus Georgien in die Türkei und bildeten da die nicht anerkannte Minderheit der Lasen. Das sind in der Mehrzahl sunnitische Muslime, vereinzelt auch orthodoxe Christen. Die kulturellen Trennlinien verlaufen umgekehrt proportional zu den Demarkationen zwischen den christlichen und den muslimischen Armeniern (Hemşinli), die sich in den gleichen Gebieten ausdifferenziert haben. Amirans Vorfahren stammen bis zur Generation seiner Eltern ausnahmslos aus der Provinz Düzce. Obwohl sie mit keiner markanten Ethnie auf dem Staatsgebiet der Türkei verwandt sind, nimmt man sie als Türken wahr.

Die Geschichte der Gastarbeit muss noch geschrieben werden.

Das Uferrelief der Bieber Bucht sieht wie ein Dschungelsaum am Amazonas aus. Alles wächst wie es dem großen Gärtner in den Tropen gefällt. Schilf, Lilien, Wurzelstöcke, Stauden und Büsche verschlingen sich bis zur Verwirrung der Eindrücke. Ich steure einen Fluchtpunkt meiner Kindheit an. Ich war so sonderbar, dass mich Gleichaltrige nicht interessierten. Ich erwartete von Erwachsenen, dass sie mich als Finanzexperten respektierten.

Im Vorgriff auf die von mir strategisch angestrebte totale Freizeit mit praller Börse verbringe ich den Vormittag auf dem Wasser. Bei niedrigem Wasserstand schießt Vegetation durch die Schlammdecke. Steht das Wasser hoch, reißt es Ufer. Ich fühle mich wie der erste Mensch beim Befahren der Fulda in einem Einbaum der Rosenheimer Faltbootwerft Klepper.

Eingebetteter Medieninhalt

Ich gehöre zu jenen, die Sport treiben müssen, um sich beim Sex wohlzufühlen. Ich bin früh vom Fußball abgekommen, obwohl ich nicht vollkommen unfähig war. Die guten Spieler waren mit und ohne Migrationshintergrund vorbildlich, insofern jeder so sein wollte wie sie. Es ist aber keiner über eine Jugendauswahl hinausgekommen. Es gab auch keinen Schwimmer, keinen Gewichtheber und keinen Leichtathleten aus Finkenherd und Umgebung, der wenigstens einmal Deutscher Meister wurde. Die besseren Leute spielten Tennis mit dem Ehrgeiz von Sonntagssportlern. Sonntagmorgens auf den Platz bedeutete für Unternehmer und Unternehmerkinder etwas ganz anderes als für alle anderen.

Mein Eintritt in den 1. FTC folgte einer strategischen Entscheidung, in heimlicher Absprache mit meinem Bruder. Damals war Levan der Familienplayboy und von uns beiden der Vorwitzigere. Wir rivalisierten, traten nach außen aber geschlossen auf, eingedenk der Lehren des Paten. Marlon Brando hatte uns als Vito Corleone früh beigebracht, familiären Zwist in den häuslichen vier Wänden zu belassen.

Deutsch war ein Synonym für Schamlosigkeit.

Ich bin 1988 in Fulda geboren und in Finkenherd aufgewachsen. Trotzdem war ich der erste „Türke“ in Finkenherds einzigem Tennisclub. Da arbeitete ein Äthiopier, der aussah wie Abebe Bikila und einen ziemlich verlorenen Eindruck machte. Das war die Höchststrafe – schwarz, arm, unbewaffnet in einer tiefbraunen Gegend. Die Leute begreifen sich als rechtschaffende Demokraten. Du würdest angezeigt, nenntest du sie Faschisten und Rassisten. Sie entrechteten Abebe abgefeimt nach Schema F. Der Staffelstab der Diskriminierung ging von Hand zu Hand. Niemand machte sich die Hände schmutzig.

Ich bin zu jung für aktive Erinnerungen an die Reichskriegsflaggenexzesse nach der Wiedervereinigung in unserer Gegend. Zweifellos versicherte sich mein umsichtiger Vater gegen potentielle Angreifer. Es gab in seiner Generation noch taffe Verbindungen in die Türkei. Darüber wurde nicht gesprochen.

Im Gegensatz zu meinem Großvater mit seiner Unabhängigkeitsstatur, der gern den Lasen raushängen ließ, beinah ohne jedes kulturelle Unterfutter, war Vater Mitglied in einem türkisch-deutschen Unternehmerverein. Er hielt sich an seine Leute, das waren konservative Türken mit wenig Sinn für Differenz. Also wurden wir in Deutschland als deutsche Staatsbürger türkischer als es unsere Vorfahren in der Türkei gewesen waren. Sie hatten das Abstrakt der georgischen Besonderheit in die Fortpflanzung integriert.

Meine Kinder halten sich für halbe Türken, obwohl sie ethnisch mit Türken nichts zu tun haben. Marion hat nach mir einen hemdsärmelig-feinsinnigen liberalkonservativen, hochtoleranten und mäßig musikalischen Boris geheiratet, einen wandelnden Widerspruch. Doch Boris' Programm funktioniert in einer Sphäre absichtlich stadtferner Apotheker, Anwälte, Architekten, Ingenieure, Bauunternehmer und Versicherer. Das sind Erschließungsspezialisten, Fachleute für Siedlungen, die auf Äckern hochgezogen werden.

Die Töchter und Söhne ihrer Vorgänger waren meine Mit- und Gegenspieler*innen. Heute sind sie mitunter Geschäftspartner*innen und sowieso ganz befreit von den Vorbehalten ihrer Jugend. Es geht uns viel besser miteinander, seit wir erwachsen sind. Ich bin der Amiran, ein guter Mann, eine Säule der Gemeinschaft und geschiedener Familienvater, wie fast alle, und noch lange im richtigen Alter für neue Bindungen und Gelegenheitsverwertungen.

Morgen mehr.