Leslie Jamison liebt verwegene Vergleiche. Glühwürmer auf einem Gartenfest lassen sie an „Blicke eines schüchternen Gottes“ denken. Weiße Hosenbeine leuchten „wie Scheinwerfer in der Dunkelheit“.
LJ studiert an der Universität von Iowa. Unter den Laufwegen des akademischen Parcours fließen wie „unterirdische Wasseradern“ Eskapadenerinnerungsrinnsale.
Suffschoten und Liquorlegenden werden zu Initiationstexten hochgejazzt. Die Debütantin memoriert Überlieferungen „alkoholbedingten Fehlverhaltens … (in) traumhaften Mythen ... Raymond Carver und John Cheever, wie sie in den frühesten Morgenstunden mit quietschenden Reifen auf Supermarktparkplätze (fahren), um ihre Alkoholvorräte aufzufüllen; John Berryman, der in der Dubuque Street anschreiben lässt“.
Leslie Jamison, „Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung“, aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann, Suhrkamp, 18.-
„Homer aus der Gosse“
“I fear those big words, Stephen said, which make us so unhappy.” James Joyce
Man vergisst leicht, wie Suff riecht und schmeckt. Seine natürliche Umgebung, die Kneipe, bleibt als Umschlagplatz von Ausdünstungen unschlagbar. Selbstverständlich wird überall geraucht. Die Kombination von Alkohol und Nikotin geht beim Austausch von Körperflüssigkeiten in eine furchtbare Verlängerung. Da riecht garantiert nichts besser als die vergessene Socke in der nie geputzten Ecke einer Umkleidekabine.
Die Autorin hört nicht auf, ein romantisches Bild von der saufenden Schriftstellerin zu zeichnen. Außerhalb ihrer Blase würde sie von jederfrau einer nüchternen Kritik ausgesetzt. In der Blase stolpert sie mit Denis Johnson* „in jene Schlucht … in der die gescheiterten Götter sich betrinken“.
Einst beschrieb der Spiegel Johnson als „großkotzigen Homer aus der Gosse“.
*„Er selbst sagte, unter anderem habe er Angst gehabt, keine Texte mehr schreiben zu können, wenn er einen langweiligen und nüchternen Lebensstil gehabt hätte.“ Wikipedia
Narrative Flaute*
*„Wenn Suchtgeschichten sich von der Dunkelheit nähren, von der hypnotisierenden Spirale einer fortgesetzten, sich ausweitenden Krise, dann erscheint die Genesung oft als narrative Flaute, als glanzloses Territorium des Wohlergehens.“
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Iowa Apartments Near Campus – So heißt eine Agentur, die den Wohnraum für Studierende in Downtown Iowa City makelt. Da landet die Kalifornierin Leslie Jamison in der Dodge -, Ecke Burlington Street. Sie ist einundzwanzig und von jetzt auf gleich ständiger Gast auf den Gartenfesten der Nachbarschaft. Die akademischen Zerstreuungen folgen einem schlichten Schema mit Leuchtgirlanden, Glühwürmern, Grillgut, Stechmücken und „Einmachgläser voller Rotwein“.
„Ich war hier, um am Iowa Writers’ Workshop meinen Master in Kreativem Schreiben zu machen, einem Studiengang, der vor Geschichtsträchtigkeit nur so strotzte. Ich hatte den Eindruck, als verlangte der Studiengang in einem fort Beweise, dass man es verdient hatte, hier zu sein.“
Jamison bewegt sich in einem Milieu, das täglichen Alkoholkonsum als Normalität im Rahmen einer aufgeschlossenen Gemütlichkeit erscheinen lässt.
Nachts treibt die angehende Schriftstellerin Unruhe auf die Straße. „Ich (fuhr) raus aus der Stadt, vierzig Meilen auf der Interstate 80 nach Osten, zur größten Lkw-Raststätte der Welt“.
„IOWA 80 - der größte Truckstop der Welt - Nach seinem Ausbau 1996, der etwa 3,5 Millionen Dollar kostete, ist der Iowa 80 auch offiziell der größte Truckstop der Erde und allein schon aus diesem Grund ein Paradies für Trucker.“ Quelle
Jamison lässt ihre Rauschzeit aufleben. Vor einer Kulisse aus Campus und Maisfeld kokst sie zum ersten Mal in der Gesellschaft eines Kommilitonen, dessen Interesse ihr interessant genug erscheint.
„Eigentlich waren es ja immer die anderen, die wahrgenommen wurden, die Felicitys dieser Welt, aber jetzt legte dieser Typ hier Blood on the Tracks auf.“
Rituelle Überschreitung
Mit fünfzehn trinkt sie zum ersten Mal heimlich. Die Überschreitung vollzieht sich beinah rituell in einer Gemeinschaft Gleichaltriger. Die Heranwachsenden formieren sich zu einer Geheimgesellschaft im Schutz eines Elternhauses. Abwesende garantieren die Abschirmung, während alle Anwesenden nicht wissen, wohin die Reise geht.
In dem Verstoß steckt ein Vorstoß. Die Autorin schildert die Begleitumstände einer Unvermeidlichkeit. Die Jugendlichen trinken, was die Bestände hergeben, und so auch den „Chardonnay, der zwischen Orangensaft und Mayonnaise im Kühlschrank“ steht.
Perfekte Punkte
Fortan liegen Drogen nah. Ihre besitzergreifende Wirkung kommt nicht im Bewusstsein der Gefährdeten an. Die Sachen sind einfach nur in ihrer Reichweite. Eine Konfrontation mit der richtigen Reihenfolge, nach der sie in die Reichweite und in den Sog von Suchtstoffen geraten ist, käme ihr wie eine Verkehrung der Realität vor. Als die Pubertierende zum ersten Mal dem Begehren eines Jungen einen Finger reicht, ist Alkohol im Spiel. Der erste feste Freund „schießt sich gern ab“. Den Point of no Return überschreitet Jamison vollkommen arglos:
„Vielleicht hat der Beginn meines Trinkens auch weniger mit konkreten Momenten zu tun als mit dem Einschleifen von Verhaltensmustern – dem täglichen Trinken. Das begann in Iowa City“.
Die Autorin erreicht in den Zirkeln der lokalen Avantgarde „perfekte Punkte“ erst zwischen dem zweiten und dritten, dann zwischen dem dritten und fünften Wodka Tonic. Auf der Ziellinie „leuchtet (das) Leben von innen“.
Redundanz versus Originalität
Es ist gewiss auch für (wie mit der Brechstange) brutal Belehrte schwer, sich den suggestiven Wirkungen dieser Erinnerungen zu entziehen. Die meisten Alkoholiker:innen in meinen Fächern haben als Aktivsüchtige Meister:innenwerke der in mehr als einer Hinsicht ertrunkenen Literatur gelesen, ohne selbst die Flasche abzusetzen. Ich nenne Malcolm Lowrys „Unter dem Vulkan“. Der Roman schmeckt wie Tequila.
Das Fest des Lebens besteht für süchtige Schriftsteller:innen darin, Trinken, Schreiben und Lesen zu können so viel sie wollen/müssen.
Auf die Reihenfolge kommt es an.
„Von außen betrachtet mag das Trinken als willentliche Selbstzerstörung erscheinen – für (Alkoholiker:innen) ist es so unausweichlich wie der nächste Atemzug“, schreibt Jamison in einer Vorbemerkung.
Der Satz hat es in sich.
Die Brüder Grimm verwahrten sich gegen modische Originalität. Sie wollten die treue Überlieferung, die in der mündlichen Wieder- und Weitergabe den narrativen Kern im traditionellen Kleid transportierte. Märchenerzähler:innen legten ihren Stolz dahinein, feststehende Formulierungen variantenfrei (vulgo fehlerfrei) zu repetieren.
Der Text war Allgemeingut so wie die liturgische Liedlyrik.
In den Kreisen der Anonymen Alkoholiker:innen ächtet man die Eloquenz zugunsten der braven Einsicht, als Alkoholiker:in nichts Besonderes zu sein; keine besondere Geschichte zu haben. Das meldet jedenfalls Jamison.
Aus der Ankündigung
Mitreißend erzählt Leslie Jamison von ihrer Abhängigkeit und dem harten Weg hinaus. Davon, dass die Loslösung vom Alkohol bedeutet, sein Bild von der Welt und von sich selbst radikal zu hinterfragen und zu verändern. Die Klarheit ist eine persönliche und kollektive Geschichte des Trinkens und des nüchternen Lebens – klug, bewegend aufrichtig und von unverhoffter Schönheit.