Franco Andrade sumpft in einem Morast aus Pornos und Chips. So heimlich wie ständig betrinkt er sich in einem von Killermoskitos heimgesuchten Mangrovenhain. Der Anwaltssohn residiert in einer Gated Community. Zum Personal gehört Polo, dem der verwöhnte Schwätzer Franco gehörig auf die Nerven geht. Franco macht den geschmeidigen Gärtner zum Hauptzeugen eines uferlosen Begehrens.
Ich assoziiere mit dem Schwadroneur furchtbare Gärungsexplosionen.
Fernanda Melchor, „Paradais“, Roman, aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar, Klaus Wagenbach Verlag, Quartbuch, 18,-
Franco verehrt (so obszön wie er nur kann) die neue Nachbarin Señora Marián Maroños, die ihre Form in einem Fitnessstudio kultiviert und gern die allerkürzesten „Seiden-Miniröcke“ trägt. „Fröhlich und zufrieden schaukelt (Marián) ihren Arsch“ über die Saumpfade des geschützten Raums.
Franco vereint sich mit ihr auf einem Phantasiefestival der Selbstbestätigung.
Aus der Ankündigung
Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen. Aber wer ist hier schon ohne Schuld? Der Roman der preisgekrönten mexikanischen Autorin Fernanda Melchor erzählt die Geschichte eines Verbrechens: roh, ohne tropische Restmagie, ein schneller, heftiger Schlag.
Am Rand des Paradieses ist das Wasser schlammgrün. Jede Nacht sitzen sie unten am Fluss und trinken bis zur Besinnungslosigkeit: der übergewichtige blonde Franco, der in der Luxus-Anlage Paradise wohnt, und der sechzehnjährige Polo, der dort als Gärtner arbeitet. Doch Franco ist kein Freund, er braucht Polo nur, um seine grotesken sexuellen Phantasien auszubreiten. Die drehen sich obsessiv um eine einzige Frau: die unerreichbare Nachbarin Señora Marián.
Polo bleibt trotzdem sitzen und säuft: um die Plackerei, die Herabwürdigungen zu ertragen, um nicht zurück ins Dorf zu müssen, wo alle für die Drogenmafia arbeiten – und ihn seine schwangere Cousine und die Vorwürfe seiner Mutter erwarten. Die Nachbarin wolle ihn verführen, sagt der Dicke, er müsse mit ihr schlafen, notfalls mit Gewalt. Polo hält das für lächerliche Hirngespinste, aber allmählich wird er vom stummen Saufkumpan zum Komplizen. Und wittert seine Chance auf den großen Ausbruch …
Mit unheimlicher Wucht erzählt Fernanda Melchor, wie aus Begehren etwas Finsteres, Aggressives, Lebensgefährliches entsteht. Ein hochexplosives Gemisch aus unüberbrückbaren Klassenunterschieden, Frustration und Frauenhass durchdringt »Paradais« in jedem Satz – bis in die letzte Ritze, bis zum irrwitzig flackernden Ende.
Im Referatspräsens
„Hart und kompromisslos realistisch, ohne Floskeln und Narco-Kitsch zeichnet Fernanda Melchor ein dichtes Bild der mexikanischen Gesellschaft“ sagt der Veranstaltungsankündigungstext. Melchors Heldin ist eine mittelmäßige Hexe mit einer hochbegabten Tochter.
Fernanda Melchor, „Saison der Wirbelstürme“, aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar, Wagenbach, Quartbuch, 240 Seiten, 22,-
Borchmayer beschreibt Mexiko als „ein Land auf dem Weg zur Hölle“. Melchor schildere „das Inferno der spätkapitalistischen Gegenwart“ im Stil des jeden magischen Realismus allergisch verweigernden apokalyptischen Realismus. Seit der Kampf gegen das Organisierte Verbrechen kriegsförmig geführt wird, kamen mehr als vierzigtausend Menschen ums Leben. Die Eskalation koinzidiert mit vielen Morden an Frauen, die zum Großteil nicht aufgeklärt werden.
Borchmayer spricht von „Listen geschlachteter Frauen“. Nach Angaben des Instituto Nacional de Estádistica y Geografía (INEGI) wurden zwischen 2000 und 2009 12.636 Frauen umgebracht. In Ciudad Juárez wird alle zwanzig Stunden eine Frau ermordet. Melchor erklärt, sie habe für diese Entrechtung einen narrativen Rahmen geschaffen. Sie wollte Verhältnisse beschreiben, in denen man eine Frau töten kann, ohne rechtliche Folgen fürchten zu müssen.