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2021-09-20 07:05:01, Jamal Tuschick

Im November Siebenundachtzig

„Heiner Müller hat auf den Kommunismus gewettet wie Pascal auf den lieben Gott.“ Peter Hacks
Ich beschäftige mich mit Friedrich Dieckmanns Aufsatz „Das zerbrochene Weinglas oder Harich, Müller, Hacks, Hermlin und die anderen. Beim Lesen in alten und neuen Sinn-und-Form-Heften“, nachzulesen im jüngsten Heft von Sinn und Form.

Wer wann was gesagt hat, bleibt spannend, sofern es in einem Zusammenhang mit Heiner Müller gesagt wurde. Auch wenn Dieckmann seine Leidenschaft mit Ironie abdeckt ... „und natürlich, weniges brennt uns heute so auf den Nägeln wie die Frage, ob Stephan Hermlin recht hatte, als er im November 1987“ ... zeigt sich die Passion in der Analyse. Hermlin warf Wolfgang Harich u.a. eine Attacke auf Müller vor, die damals bereits eine Ewigkeit zurücklag. Der Spiegel vom 11.03.1973 konserviert den Zusammenhang:

„Die DDR-Zeitschrift Sinn und Form wollte wissen, wie es um das Verhältnis 'zu unserem historischen Kulturfundament' steht, und bat um Wortmeldungen. Als einer der ersten markiert nun im neuen ... Heft der Ost-Berliner Philosoph Wolfgang Harich, 49, seine Position. (Er) ... polemisiert gegen 'modernistische Verramschung und Enthumanisierung des Kulturerbes'. Der Vorwurf geht in erster Linie gegen den DDR-Dramatiker Heiner Müller, 43, dessen Macbeth-Bearbeitung Harich ein 'Mißverhältnis' nachsagt 'zwischen der geistigen Leistung, die Müller in seine Bearbeitung investiert hatte, und der Prätention, mit der er sie der Öffentlichkeit darbot'.“ Quelle

Hermlin verbindet die Kolportage der Harich-Kritik an Müller mit der explizit zwar falschen, implizit aber einen Punkt treffenden Behauptung, der Kritiker habe „das Verbot der Stücke von HM gefordert“.

Harich und Müller waren in Feindschaft verbunden. Mit dem Hinweis auf den gemeinsamen Feind, wurde Müller bei Ernst Jünger vorstellig.

In dem MDR-Beitrag „Woche der Insekten - Ernst Jünger - Insektenforscher und Schriftsteller“ vom 03. August 2020 heißt es: „Anfang der 1950er-Jahre hatte der junge Philosoph und Literaturkritiker Wolfgang Harich in der Zeitschrift Aufbau gegen Ernst Jünger polemisiert. Harich bezeichnete Jünger als 'Wegbereiter und Begleiter des Faschismus' ... Heiner Müller ... besuchte 1988 ... Jünger in Wilflingen ... die ... Männer verstanden sich. Sie tranken Sekt, blätterten in alten Büchern, zogen über gemeinsame Feinde (her) - Wolfgang Harich zum Beispiel ... Müller sagte später in einem Interview: 'Jünger war glücklich, dass er immer noch stört, dass er immer noch böse ist'.“ Quelle

Dieckmann erwähnt Harichs Verneigung vor Müllers Philoktet. Ich lege da kurz nach, wir machen später mit dem Dieckmann-Aufsatz weiter.

Neoptolemos lügt mit einer wahren Geschichte

Eine Schlange beißt Philoktet, die Wunde eitert. Der Eiter stinkt zum Himmel. Kollegen von der hellenischen Heeresleitung, man ist auf dem Weg nach Troja, reagieren auf verbreiteten Unmut, indem sie dafür sorgen, dass ihr Meisterschütze auf Lemnos (nach einer Odysseusorder) ausgesetzt wird. Auf Lemnos ist nichts los, behauptet Sophokles. Der unfehlbare Philoktet holt die Inselgeier auf den Boden der Tatsachen, die sich nach Brecht in der Frage erschöpfen: „Wer frisst wen?“

„Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war/Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr.“ – Die Aasfresser ernähren Philoktet, er verwandelt sich in der Abwesenheit von Zivilisation. Die Robinsonade ohne Schiffbruch zieht sich zehn Jahre hin, dann landet eine Delegation mit Odysseus an der Spitze auf Lemnos, um Philoktet zu reaktivieren. Der offizielle Sinneswandel hängt mit einem Orakel zusammen. Das Orakel macht Politik, wenn es behauptet, nur Philoktet und sein von Herakles übernommener Wunderbogen könne die Eroberung Trojas bringen.

Philoktet ist sauer, er will mit der griechischen Gesandtschaft nichts zu tun haben. Das kann man verstehen. An seiner Stelle hätte manche(r) den intriganten Marinekapitän Odysseus und diesen außerdem angeschwemmten Neoptolemos (Sohn des Achill) gewiss gleich umgelegt. Aber das ist Sophokles ein zu kurzer Prozess.

Odysseus benutzt Neoptolemos, um Philoktet einzuseifen und aufzuweichen. Neoptolemos lügt mit einer wahren Geschichte und den besten Absichten, Philoktet zu entwaffnen. Dem Scharfschützen kann man schmeicheln. Man stellt ihm ein günstiges Andenken in Aussicht. Die Nachwelt soll den Aussätzigen achten.

*

HM schreibt 1950 ein ansatzweise heroisches „Philoktet“-Gedicht. Die Dramatisierung des Stoffs fällt in die Zeit seiner eigenen Ächtung. Er ist der Ausgeschlossene, veröffentlichen kann er nur unter Pseudonym.

„Die Erfahrungen, die gerade hinter mir lagen, (Ausschluss aus dem Schriftstellerverband 1961) haben mir den Stoff ganz anders aktuell gemacht.“

Gleichzeitig gilt sein Hauptinteresse Odysseus, der in Lesarten des Kalten Krieges „als stalinistischer Korporal“ verstanden wird. Solche Deutungen verfehlen nach Müller das Wesentliche. Für ihn ist Odysseus die tragische Figur.

In „Drei Punkte zu „Philoktet“ stellt er fest: „Die Handlung ist Modell nicht Historie. Sie bietet Gelegenheiten, Haltungen zu zeigen, nicht Bedeutungen. Für Müller sind „Philoktet, Odysseus und Neoptolemos Clowns und Gladiatoren ihrer Weltanschauung“.

Lemnos als Anstalt. Darin hat sich Philoktet mit seinem Hass auf Odysseus & Co. zur Ruhe gesetzt. So lange hat ihn sein Hass gekühlt, jetzt erhitzt ihn die tödliche Aufrichtigkeit des Neoptolemos. Das ist schon infam.

Philoktets Demobilisierung gelingt. „Was wir hier zeigen, hat keine Moral/ Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen“, Odysseus führt Philoktet weiter hinters Licht. Der Gefoppte stampft auf im Trotz. Er brüllt wie auf einem attischen Markt. „Die Aushöhlung der Werte drückt sich im Pomp der Fassade aus, ... der Humanismus trägt Uniform. ... Der Verschleiß der Rüstungen im Dienst ... soll den Glanz der Sprache durchsichtig machen als Instrument von Herrschaft.“ HM

Stets geht es um den Bogen, mit dem Philoktet unfehlbar ist. In der Wahrheit des Mythos kämpft Philoktet wieder und weiter und folgt so einer göttlichen Anweisung. Müller schickt die Götter der Griechen aber in den Ruhestand. Die Vorsehung hat Feierabend.

Ich beschäftige mich mit dem Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Hans Magnus Enzensberger von 1955 bis 1966, nachzulesen im jüngsten Heft von Sinn und Form.

Im Oktober 1955 lässt Alfred Andersch* seinen jungen Mann, Dr. Enzensberger, den „verehrten Herrn Professor Adorno“ um „ein paar stimulierende Zeilen“ bitten. Hochachtung und Distanz diktieren die Diktion.

*„Andersch gründete 1955 beim Süddeutschen Rundfunk Stuttgart die „Radio-Essay-Redaktion“. Wikipedia

In seiner Vorbemerkung weist Jan Bürger auf die besondere Note hin. Im Milieu der ersten Kontakte gab es keine besonders starken Anker der Plausibilität für Adornos Zugänglichkeit im Verhältnis zu einem „fünfundzwanzigjährigen Intellektuellen in der Adenauerzeit“. Deutlicher als die meisten erkannte der Remigrant die Einübung des Gedächtnistheaters (Y. Michal Bodemann) als Selbstexkulpationsveranstaltung der bundesrepublikanischen Bürger:innen. Klar, Enzensberger war ein aufgeweckter, seine Generationsgenoss:innen überragender Debütant. Interessant bleibt die Frage, warum das reichte, eine geistig-erotische Verbindung zum Neben-Doyen der Frankfurter Schule aufzubauen.

In seiner Rolle als Redakteur muss Enzensberger Adornos überschießende Produktivität kupieren. Er achtet sehr darauf, dem Arivierten nicht auf die Füße zu treten. Er tritt leise auf und rühmt das „hohe spezifische Gewicht“ der Sprache des Essayisten.

Adornos Motor ist ein gewaltiges Ding. Enzensberger erscheint neben dem Giganten wie ein Springinsfeld. Enzensberger erkennt in Adorno den Stichwortgeber seines Unbehagens am verdrängenden Weiterwichteln. Aus dem Übermensch kroch ein Zwerg und verpisste sich als Opfer. Enzensberger erbittert die Selbstgerechtigkeit der Täter:innen. Die Dialektik der Aufklärung hilft ihm, sein Repertoire „von der Schlacke der Hilflosigkeit zu reinigen“.

Adorno liefert Enzensberger Munition. Der Lieferant erfreut sich am smarten Skeptiker.

Enzensberger erkennt die Ladung der Kritischen Theorie. Sie schließt „jeden Akt der Versöhnung“ aus. Dies mit hyperbourgeoisem Gestus ex cathedra zu verkünden, ist ein Raumflug des Geistes, der Bewunderung hervorrufen muss.

Machen wir uns nichts vor. Enzensberger erkennt in Adorno auch eine Stil-Ikone. Er lernt, wie man mobilisiert, ohne sich gemein zu machen. Adorno rät dem Spund zum „Brechtschen Begriff des Umfunktionierens“ Zuflucht zu nehmen, und sich den Massenmedien nicht mit kulturindustriekritischen Argumenten zu entziehen. Degoutant sei es, sich „auf handgeschöpften Bütten tummeln (zu) wollen“.

Immer mal wieder rutscht etwas Privates in die Konversation, in der ein akademischer Lehrer zu einem vielversprechenden Schüler spricht. Kein denkbares Abhängigkeitsverhältnis wird zum Spannungsfeld. Das Vornehme kaschiert jede Notdurft. Niedrigere als eben die höchsten Beweggründe erscheinen in keinem Fall relevant. Unangenehmes ordnet Enzensberger geschickt dem oft unerreichbaren Andersch zu. Dabei wirkt Enzensberger niemals liebedienerisch oder schranzenhaft. Sein Format zeigt sich im Vollbild ohne Vorlauf.

Aus der Vorbemerkung von Jan Bürger

„Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im Massenmedium Radio besonders für Studierende die Verbindung zur deutschsprachigen Wissenschaft und Kultur vor 1933 wieder her, die wesentlich von Intellektuellen mit jüdischem Familienhintergrund geprägt wurden. Zudem galt er als überragender Rhetor, der es wie wenige verstand, hochkomplexe Gedanken frei vor seinem Publikum zu entwickeln.“