In den „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ brät Dostojewski einen Sonderling, der von jeher ein Schattendasein in lauter Randlagen führt, am Spieß einer furiosen Psychologie.
In einem Gespräch unter Gelehrten lässt sich ein beinah noch jugendlicher Überflieger mit der Bemerkung vernehmen, man dürfe die Romantik nicht der Reaktion überlassen. Das fiel mir eben ein, da ich las, „in Russland habe es niemals jene unbedarften lebensfremden (Romantiker:innen) gegeben wie in Deutschland und ... in Frankreich, auf die nichts Wirkung zeigt, mag die Erde unter ihnen erbeben“.
Sie werden sich nicht ändern. Jetzt verstehe ich den Zusammenhang zwischen Romantik und Reaktion noch einmal anders. Die Koinzidenz entschleiert sich mir in der Unbeweglichkeit jener, die „Frankreich auf den Barrikaden“ gleichermaßen kaltblütig und lethargisch verbluten lassen (konnten), wie betäubt und gesteinigt vom „Fatalismus der Geschichte“.
„Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem Gräßlichen Fatalismus der Geschichte.“ Georg Büchner am 10. März 1834, Quelle
Fjodor Dostojewski, „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“, neu übersetzt von Ursula Keller, Manesse Bibliothek, 309 Seiten, 25,-
Ein Schwätzer ohne Publikum und Namen versteigt sich zu der Feststellung, Romantiker:innen seien Narren/Närrinnen.
„Bei uns aber, in russischen Landen, gibt es keine Narren.“
Der Namenlose, ein irgendwie Relegierter mit einer Beamtenvergangenheit, irrlichtet in kläglichen Verhältnissen. Er labert und wabert in einem Souterrain an der Petersburger Peripherie. Überschießender Selbsthass verleitet ihn zu einem solistischen Selbstschmähungsfestival; einer solipsistischen Orgie.
Die „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ erschienen erstmals 1864 als Porträt eines schuftig-verkommenen Zeitgenossen. Dostojewski brät einen Sonderling , der von jeher ein Schattendasein in lauter Randlagen führt, am Spieß einer furiosen Psychologie; es gibt keine Rettung vor der Nichtswürdigkeit menschlicher Regungen. Die Figur könnte wie ein Staffelstab von Camus übernommen worden sein. Zuzeiten wirkt sie benommen von Inferiorität. Dann erhebt sie sich wieder über alle und gackert grandios wie ein wahnsinniges Huhn. Gerade glaubt sie, jeden Hieb verdient zu haben, um gleich alle Schmach in einem Vergeltungsfeldzug tilgen zu wollen. Es versteht sich, dass der Schwadroneur aus seinem Keller nicht herauskommt. Er verachtet sich für seine Trägheit, und lobt den Tatmenschen als erstrebenswertes Gegenteil in hohlen Tönen.
Die Litanei strotzt vor Kleinlichkeit und aufgetakelter Larmoyanz. Ich weiß nicht mehr, wo ich die Formulierung fand: „Kinderkopf mit angepapptem Attilabart“. Das passt zu dem wehleidigen Trotz, der „jämmerlichen Zügellosigkeit“ und impotenten Rage des Erzählers, der unter allen Schmerzen seines spielsüchtig-verschuldeten Schöpfers leidet; so angepiekst wie eine Voodoopuppe.
Dostojewski schickt ihn in die Hölle der Bedeutungslosigkeit.
Aus der Ankündigung
Die Abrechnung eines Zukurzgekommenen – Urbild aller (Wutbürger:innen, Menschen- und Weltverächter:innen)
Ein ehemaliger Beamter sitzt verbittert in seiner Kellerwohnung am Stadtrand von St. Petersburg und klagt die Welt an. Obwohl erst in den Vierzigern, hat er seinen Dienst quittiert und lebt von einer kleinen Erbschaft mehr schlecht als recht. Was seinen Furor erregt, ist der »moderne Mensch« und die von ihm geprägte Gesellschaft. Mit hemmungsloser Offenheit berichtet er auch über seine eigenen Erfahrungen des Scheiterns, von Entfremdungen und Missverständnissen. Je weiter er sich in seine Generalabrechnung hineinsteigert, desto unerbittlicher wird er gegen sich selbst.
Dostojewskis meisterliche psychologische Studie besticht durch die Suggestivkraft einer durch und durch radikalen Selbst- und Weltbeschreibung. Pünktlich zum 200. Geburtstag des Autors am 11.11.2021 erscheint dieses große kleine Werk in einer Neuübersetzung von Ursula Keller.