Osthessen im Schnee - Sieht aus wie in den Dolomiten
Meine Mutter ist noch in der Türkei aufgewachsen, in dem Bewusstsein so schnell wie möglich die Frau meines Vaters zu werden. Fast zweihundert Jahre haben sich die Vanilisis in einer Provinz gefunden und sind da gestorben, nachdem sie ihren Teil zum Erhalt und zur Vergrößerung der Familie beigetragen hatten. Anders als meine deutschen Generationsgenossen stand auch ich unter dem Druck, so schnell wie möglich zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen.
Mutter verlor ihre Zurückhaltung bei diesem Thema. Sie hätte mir gern eine Importbraut ans Herz gelegt, eine Jungfrau aus unserer Gegend. Ich spürte, dass sie etwas im Schilde führte. Ich musste ihr zuvorkommen und schneller als sie Nägel mit Köpfen machen.
Der auf einem osthessischen Knick in einer Enge zwischen Thüringen und Franken ansässige Unternehmer Amiran Vanilisi beschäftigt fast ausschließlich Migranten in seiner Fabrik für Schuhbodenteile – genannt der Kasten. Seine Vorfahren flohen von einem Ufer zum anderen aus Georgien in die Türkei und bildeten da die nicht anerkannte Minderheit der Lasen. Das sind in der Mehrzahl sunnitische Muslime, vereinzelt auch orthodoxe Christen. Die kulturellen Trennlinien verlaufen umgekehrt proportional zu den Demarkationen zwischen den christlichen und den muslimischen Armeniern (Hemşinli), die sich in den gleichen Gebieten ausdifferenziert haben. Amirans Vorfahren stammen bis zur Generation seiner Eltern ausnahmslos aus der Provinz Düzce. Obwohl sie mit keiner markanten Ethnie auf dem Staatsgebiet der Türkei verwandt sind, nimmt man sie als Türken wahr.
Die Geschichte der Gastarbeit muss noch geschrieben werden.
Zwei Tage nach meinem neunzehnten Geburtstag schnappte ich mir Vaters Firmenaudi und fuhr nach Meiningen zum „Blue Orange“. Das ist ein Schuppen mit Vergangenheit. Man hat ein Tanzcafé im Originalzustand der DDR-Sechzigerjahre erhalten oder dahin zurückversetzt. Nebenan läuft das Programm im aktuellen Jugendstil. Im „BO“ ist auch unter der Woche was los. Um halbelf drehten sich altersschwache Vierzigjährige auf der Tanzfläche im Café. Erinnerungen an Foxtrott, Walzer und Rock’n‘Roll lebten auf. Als geübter Tänzer hatte ich das ganze Programm auf dem Schirm.
Ach so, das habe ich noch gar nicht erzählt. Im Gegensatz zu meinem Bruder Levan, der alles mitmachte, was zu unserer Schulzeit türkischer Nachwuchs in der deutschen Provinz für angebracht hielt, bin ich nicht nur in den einzigen Finkenherder Tennisclub eingetreten wie vor mir noch kein Türke. Die Tanzschule Bückling im Rosenweg, bürgerliche Jugendschmiede und Eheanbahnungseinrichtung, war außerdem ein Revier von mir. Ich brachte es dahin, ein begehrter Partner zu sein. Versiert in den Feinheiten und Verdrehungen eines Kodexes mit Knicks und Diener, tanzte ich an der Benimmstange. Ich überzeugte als Gastherr, eine im Genre etablierte Figur. Mein Tanzlehrer bereiste mit mir in seinem Simca den Landkreis. Regelmäßig löste der Ausputzer im Anzug Bedauern aus, wenn dem Beweis guter Manieren keine Liebeserklärung folgte.
Ich würde das nicht so gespreizt formulieren, aber mein Ghost schreibt nun mal so als Berufsdilettant ohne Fortune. Ich habe ihm viertausend bar auf die Kralle gegeben. Für ihn ist das Geld.
Ich trug gern Anzug als adoleszenter Geck, dem stillen Protest der Deodorantverweigerer konnte ich nichts abgewinnen. Auch konnte ich nicht fröhlich gucken, wenn meine Partnerin nach sauren Socken roch. Ich habe mir auch lange eingeredet, dass Frauen anders Stuhlgang haben als Männer, weil ich von den Klogängen meiner Mutter und Schwester nichts mitbekam. Meine Mutter hatte selbstverständlich ihr eigenes Bad und dahin verschwand auch Lika.
Unter die Tanzenden in dem Meininger Café mischte sich ein idealer Zusammenschnitt der Partien vom Kinn bis zu den Knien. Ich tanzte mich in Marions Aufmerksamkeit.
Heute habe ich mit Marion drei Kinder und viel Streit. Die Kinder halten sich für halbe Türken, obwohl sie ethnisch mit Türken nichts zu tun haben. Marion hat einen Bauunternehmer geheiratet, mit dem ich mich gut verstehe. Wir beide sind überzeugte Landeier. Wir grillen gern, gehen gern auf den Sportplatz, spielen ehrgeizig Tennis und fahren Autos, die was hermachen. Wir sind beide ein bisschen oberflächlich und engagierte Gegner psychologischer Deutungen. Unser Standpunkt ist einfach: Wer kein Geld hat, muss sich was einfallen lassen. Wer Geld, hat auch das nicht nötig.
Eine Freundin scheiterte bei dem Versuch, die hermetische Absperrung zu überwinden, hinter der ich Marion sofort zu bearbeiten begann. Sie ist Rechtsanwaltsgehilfin. Damals arbeitete sie in einer Büdinger Kanzlei. Die Verbindung von Normalität und Schönheit übertraf meine Erwartungen. Ich mobilisierte den Spitzenverkäufer in mir:
„Wegen dir bin ich hier. Dich habe ich beim Universum bestellt. Ich habe den Plan für dein Leben. Du kannst vergessen, was du dir bis heute vorgenommen hat.“
Marion hielt das für möglich, ich spürte ihre Bereitschaft, mich nicht nur als Schizophrenen abzutun oder als esoterischen Armleuchter. Ich bin sicher, dass sie spürte, wie ich für uns einen Raum schuf, den sonst keiner betreten konnte.
Marion und ich waren sofort in unserer eigenen Umlaufbahn. Wir suchten das Gleiche. Wir stritten über die Zahl der Kinder, die mit uns eine Familie sein sollten. Marion wollte zwei, ich vier. Mit der zauberhaften Großzügigkeit des Anfangs einigten wir uns auf drei.
Schuldbewusstseinsautomatik
Leuchtend von einer geheimen Freude kommt Arianna ins Wohnzimmer. Kadiras Älteste schafft es spielend, mich mit einer Umarmung an Versäumnisse zu erinnern. Die Berührung ermahnt mich. Ich krame in meinem Gedächtnis, bis ich der Schuldbewusstseinsautomatik gewahr werde und sie abstelle.
Meistens will Arianna kein Kind mehr sein. Sie produziert Überschwang, prüft ihre Wirkung. Sie sucht meine Zustimmung. Sie vermutet die Komplexität eines Menschen in jedem Baum. Geknickte Halme werden aufgerichtet.
Arianna erträgt gerade vieles nicht. Kein Käferpanzer darf in ihrer Gegenwart unter eine Sohle geraten. Jedem verletzten Vogel möchte sie die Flügel richten. Sie isst trotzdem mit Appetit gebratene Hühnerbeine. Sie füllt mit überspielter Unsicherheit einen Raum, in dem Marion und ich nacheinander von drei Kindern ganz selbstverständlich in Atem gehalten wurden. Manchmal wird mir der Verrat bewusst, der erforderlich war, im Kasten neue Verhältnisse zu schaffen.
Ich empfinde kaum je Wehmut, wenn ich an die Vergangenheit denke. Ich habe nie einen Nachsendeantrag gestellt. Gucke ich mir abends ab acht das Elend aus aller Welt an, das Deutschland wie ein rettendes Ufer anstrebt, dann überfällt mich die Müdigkeit der Verweigerung. Ich kriege mein Glück nicht unter einen Hut mit dem Unglück der anderen. Allerdings wähne ich mich im Besitz einer Herstellungsformel für Glück. Könnte ich mir die Formel patentieren lassen, wäre ich bereit, sie in einem Franchisesystem auf den Markt zu bringen.
Marion hasste den Kasten. Sie bat mich nach der Hochzeit nicht im Unternehmerhaushalt meiner Eltern durch den Fleischwolf eines Lebens ohne Feierabend gedreht zu werden.
Zugleich klug und praktisch übersprang Marion die meisten Stolpersteine ihres Lebens. Im Spektrum der Möglichkeiten, sich zu verheiraten, gab es keine Unbekannten. Als Eingeheiratete, der Vater war Ingenieur ohne Vermögen, die Mutter Hausfrau, erwarteten die Rechtsanwaltsgehilfin Demütigungen - ein Programm mit vielen Funktionen.
Man erweitert einen Kreis und muss sich einfügen. Man besetzt einen Platz, den eine Bessere nicht verachten würde. Man dient der Entschädigung für älteres Unrecht. Marions Plan, sich zu bewahren, ohne mich zu verlieren, zerschellte an meiner Ignoranz. Ich war zu blöd, ihre Weitsicht anzuerkennen. Ich nötigte sie in die Schmiede meiner Herkunft, wo vieles wie in Stein gemeißelt scheint und sich alles als Wahrheit ausgibt, was unwidersprochen hingenommen wird.
Jetzt mache ich die Ansagen.
Wir sind gut im Hinnehmen, ich meine die Vanilisis – der Klan, die Sippe. Im direkten Verfügungsbereich betrifft das nur zwanzig Leute. Aber wer hat schon zwanzig Leute, die er nachts aus den Betten trommeln kann?
Ich habe wenig von meiner Mutter erzählt. Sie ist ja noch in der Türkei aufgewachsen, in dem Bewusstsein so schnell wie möglich die Frau meines Vaters zu werden. Fast zweihundert Jahre haben sich die Vanilisis in einer Provinz gefunden und sind da gestorben, nachdem sie ihren Teil zum Erhalt und zur Vergrößerung der Familie beigetragen hatten. Anders als meine deutschen Generationsgenossen stand auch ich unter dem Druck, so schnell wie möglich zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen.
Mutter verlor ihre Zurückhaltung bei diesem Thema. Sie hätte mir gern eine Importbraut ans Herz gelegt, eine Jungfrau aus unserer Gegend. Ich spürte, dass sie etwas im Schilde führte. Ich musste ihr zuvorkommen und schneller als sie Nägel mit Köpfen machen.
Eines Tages sagte Marion zu mir:
„Du bist doch mit deiner Mutter verheiratet.“
Eine Variante:
„Du bist der Hund deiner Mutter.“
Ich rutschte aus dem Prinzensattel und fiel aus allen Wolken.
Morgen mehr.