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2021-11-06 05:04:14, Jamal Tuschick

Sentimentaler Sozialist

Johannes Mario Simmel situierte in den Siebzigerjahren ein Synonym für avancierten Schund. In einer seiner nicht seltenen Sternstunden bemerkte Wolfgang Welt, dass er gern das schriftstellerische Vermögen eines Simmels besäße. Welt übertraf mit dieser Würdigung die Garde der Hochnäsigen, die alle nicht so effektiv schreiben konnten wie Simmel, der im Weiteren auch zu den Lieblingsautoren von Rainer Werner Fassbinder gehörte.

Simmel war, ich nehme das vorweg, ein sentimentaler Sozialist pessimistischer Provenienz. Er figuriert als Leuchtturm in der in Tuschicks Textland angestoßenen Debatte über sozialistischen Realismus.

Im Referatspräsens

1975 erscheint „Niemand ist eine Insel“. Der Titel führt die Spiegel-Bestsellerliste vom 25. August 1975 bis zum 7. März 1976 an. Der Roman beginnt mit absurd präzisen Angaben. Philip Kaven erklärt, er sei 1,82 Meter groß. Er findet es bedeutsam, das am Mittwoch den 24. November 1971 zu erwähnen.

„Über Paris faucht ein Sturm.“

Kaven steht im Regen vor dem Steinsaum, der einen Herrensitz an der Rue Cavé sichert. Nahe dem Bois de Boulogne ehrt die Straße einen Erfinder der Dampfmaschinenmoderne. Auch die Festung trennt ein Park von der plebejischen Öffentlichkeit; Kaven bringt ein kompliziertes Einlassprozedere hinter sich. Der Bestand changiert originell zwischen Ahorn und Palme. In diesem narrativen Augenblick gibt sich der Erzähler fußgängerisch-beiläufig als reicher Mann zu erkennen. Er erwähnt Umstände der Anfahrt.

„Natürlich nicht in Sylivias Rolls, natürlich nicht in meinem Maserati Ghibli.“

Simmel schwelgt in Schilderungen des Pariser Verkehrs, während Kaven solistisch unter Bäumen flaniert. Er erwähnt die Ölpreiskrise von 1973. Mir hat neulich jemand eine sonderbare Erklärung dafür gegeben. Gewarnt von gewissen Entwicklungen im Iran, habe sich Amerika veranlasst gesehen, das antikommunistische Regime des Schahs zu stärken. Man wollte aber nicht in die kaiserliche Armee investieren. Die Zeche sollten die Verbündeten begleichen, am besten, ohne es zu merken. Also sei der Ölpreis freigegeben worden. Das habe enorm viel Geld in die Kasse des Schahs gespült. So konnte er seinen Marionettenverpflichtungen nachkommen.

Ob das stimmt? Je ne sais pas.

Kaven betritt eine Privatklinik. Schnitt. Die nächste Szene spielt in einer Gefängniszelle. Nun fühlt sich Kaven zu einer pompösen Selbstentblößung veranlasst. Er sei einer jener, „nach denen alle Frauen verrückt sind“.

Kaven bezichtet sich eines Daseins als Playboy. Der größte Star der Epoche, Sylivia Moran, gab ihm den Vorzug. Er war „her meat“.

Wieder holt Simmel aus. Mühelos schlägt er einen Bogen von Judy Garland via Seidenhemden und Transatlantikflügen zum Ödipuskomplex. Das sind Ingredienzien der Droge Simmel, die heute keinen mehr vom Hocker reißt. Sie wirkte aber im Schleiflack-Muff angehobener Massenquartiere. Ich las mir die Ohren heiß. Die indirekte Kapitalismuskritik eines Casanovas des XX. Jahrhunderts entging mir selbstverständlich nicht. Wir Tuschicks waren richtige Linke, ein generationsübergreifend-verschworener Kreis; weit weg von den Gratismutigen, die inzwischen den Ton angeben. Uns umschlichen noch echte Nazis. Die Luger im Öllappen war kein Klischee. Der ehemalige Wehrmachtshauptmann mit Augenklappe und Armprothese, der bei Demonstrationen gegen Dregger vor dem Podium in Stellung ging, um uns scharf ins verbliebene Auge zu fassen, mit der Erwartung, die alte Gestapostelle im Polizeipräsidium (Königsstraße 31) bald wieder in Betrieb zu nehmen, war noch kein Gespenst aus einer unbegreiflichen Vergangenheit. Die waren alle da und rieben sich blutrünstig die Hände. Wer gegen die Wiederbewaffnung war oder die Oder-Neiße-Grenze* klaglos anerkannte, war Staatsfeind, liebe Freund:innen der Nacht.

*„Im Oktober 1965 wurde in einer Ostdenkschrift der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) erstmals von einer bedeutenden Organisation vorsichtig die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie befürwortet. Dieser innerkirchlich höchst umstrittenen Stellungnahme …“

Für mich war Winnetou Sozialist, und Karl May nur ein anderer Simmel.

Aus der Ankündigung

„Niemand ist eine Insel“ – diese Worte spricht Sylvia Moran, die schönste Frau und größte Schauspielerin des internationalen Films, bei einer grandiosen Wohltätigkeits-Gala in Monte Carlo. Wenige Jahre später, zur gleichen Zeit, da diese Frau mit ihrem neuesten Film einen Triumpf ohnegleichen erlebt, wird sie wegen Mordes angeklagt. Ihr Motiv stellt Staatsanwalt, Richter und Verteidiger vor ein Rätsel, und das umso mehr, als Sylvia Moran auf ihrer Selbstbezichtigung beharrt. Wie es zu dem Mord gekommen ist, lässt Johannes Mario Simmel den „ständigen Begleiter“ des Stars, Philip Kaven, in einer Beichte erzählen, die jeden, der sie liest, von der ersten bis zur letzten Zeile in atemloser Spannung hält.