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2021-11-08 10:33:27, Jamal Tuschick

Armut als medizinisches Problem

1685 machte Ludwig XIV. Schluss mit dem Protestantismus in Frankreich. Er schuf die reformierte Kirche ab und kurbelte so die Wirtschaft in den Nachbarländern an. Landgraf Carl von Hessen-Kassel (1654 - 1730) rieb sich die Hände, er gewährte Hugenotten Siedlungsfreiheit. Geflüchtete bauten die Kasseler Oberneustadt. Sie revanchierten sich, indem sie in der Residenzstadt den Merkantilismus modellhaft auf die Spitze trieben.

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Der Siebenjährige Krieg (1756 - 1763) zog Schneisen wie ein Holzvollernter. Die Entwurzelten fanden zu den Gewissheiten und Orten ihrer Herkunft nicht mehr zurück. Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel erkannte im Leiden seines Volkes einen Ursprung des wissenschaftlichen Fortschritts. Armut hielt er für ein medizinisches Problem.

Soldaten wurden zu Invaliden und Vagabunden, ein Tross von Witwen und Waisen lebte prekär. Groß war die Zahl unehelicher Kinder. Deren Versorgung war nicht geregelt. Jedes Jahr fanden Hinrichtungen von Kindsmörderinnen statt. Ein Nachkomme hugenottischer Emigrant:innen brachte den Missstand als erweiterten Schwangerschaftsabbruch in die Literatur. Mit seiner Denkschrift folgte er einer fürstlichen Aufforderung. Friedrich war der einzige Katholik auf dem kurhessischen Thron seit der Reformation. Er hätte die Hugenotten nicht ins Land gelassen, der Fortschritt wäre an ihm vorbeigezogen. Stärker als am Schicksal seiner Untertan:innen war Friedrich an Überlegungen des Gelehrten zum (ganz bei der Krone ankernden) ius representationis omnimodae interessiert. Die Zukunft griff die fürstliche Allmacht listig mit aufklärenden Begriffen an. Ein Zauberwort lautete auswärtige Gewalt. Alfred Hänel (1833 - 1918), ein Mann der Deutschen Fortschrittspartei, griff das Thema im 19. Jahrhundert auf.

Zuerst isolierte John Locke die auswärtige Gewalt (zumal als Gewalt über Krieg und Frieden) wenigstens in der Betrachtung von sämtlichen Staatstätigkeiten zu einer Zeit, da man jedwedes staatliches Geltungsstreben natürlich fand. Beleuchtet wurde das Postulat der grundsatzlosen Zweckmäßigkeit (als einziger Konstante außenpolitischer Entscheidungen). Jeder Souverän achtete vertragliche Bindungen nur so lange, als er sie nicht genuinen Interessen zuwiderlaufend betrachten musste. Die brüchigen Beziehungen waren familiär. In Europas hohen Häuser kam vieles aus verwandtem Schoss.

Völkerrechtliche Verträge unterschieden sich immer noch grundsätzlich von allen anderen gesellschaftlichen Verabredungen. Oft hatte eine Partei als facta bruta hinzunehmen, was ihr rechtswidrig erschien. Nicht durchsetzen konnte sich eine Auffassung, nach der nur demokratisch legitimierte Regierungen anerkannt werden durften. Eine starke Position sagte, in der auswärtigen Gewalt sei die Demokratiemechanik zum Vorteil der Geheimdiplomatie gehemmt worden.