Als Gefangener der Wehrmacht gelangt Milo Dor 1942 nach Wien. Er wird von „rückwärtsgewandten Utopien“ überrascht, denen „Nachkommen des untergegangenen Vielvölkerstaates“ rauschhaft und fiebrig anhängen. Die ordnende Kraft der Habsburger Monarchie ist die beliebteste (abgegriffenste) Spielkarte der umlaufenden Klischees. Dor reagiert „angewidert“. Ihn „übersäuern“ die politischen Nostalgien. Zum Beispiel nennt man wieder und wieder „das vorbildliche Kataster“ zu Zeiten Maria Theresias über „Besitzverhältnisse in der Lombardei“.
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Den Zug überfüllten Bürger:innen der ehemaligen Sowjetunion. Im CCCP-Standard war die 24-Stunden-Strecke ein Kurztrip. Man war heiter bis zur Ausgelassenheit. Westeuropäische Berührungsängste verdunsteten im Mief, triefender Gemeinsinn regierte im Verein mit robustem Egoismus das Gewitter der Erscheinungen. Reisende saßen wie Turner:innen im Schneidersitz.
Wer konnte, schaute aus einem Fenster.
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Dor, ein in Budapest geborener und im Banat aufgewachsener Serbe, spricht von „den positiven Wirkungen so wie dem problematischen Rest multiethnischer und polyglotter Prägungen“.
Er erinnert daran, was Budapest ursprünglich war: ein türkisches Feldlager. Man wollte ihn zu einem serbischen Patrioten schmieden. Das misslang den Eltern. Sich durch setzte ein weit reichendes Misstrauen gegenüber „nationalen Gefühlen“.
Dor verschränkte sein persönliches Schicksal mit der Entwicklung mitteleuropäischer Staaten, die zustande kamen „durch Zufall und Gewalt“.
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Eine Erziehung zur Härte hielt mich gerade. Ich war ein Vagabund des Nachrichtenwesens, der Eau de Toilette von Calvin Klein auf ein Taschentuch kübelte, wenn es zu sehr stank. Ich sah nur noch Barbarei und keinen Sinn mehr. Während der Belagerung von Sarajevo hatte man den Brennwert von Büchern ermittelt und einen Kubikmeter Holz für 350 Mark gehandelt.
Den Passagieren war wenig mehr erlaubt als auf dem Gang zu stehen oder zu schlafen. Man rauchte in Waggonzwischenräumen. In Männergesellschaften. Ab und zu mischten Raucherinnen die Bruderschaften auf.
Die Scheiße tanzte auf ihren Tümpeln. Ich beobachtete Leute, die nichts aus der Ruhe brachte. In ihnen überlebte eine Gelassenheit, mit der eine Rückkehr in die Steppe gegebenenfalls gut möglich sein würde.
Ich sprach mit einer Frau aus Kasachstan. Sie war nach Deutschland gefahren, nur um zu erfahren, dass ein Operation, die sie nötig hatte, für sie unbezahlbar war. Ihr Nationalstolz brach auf. Kasachstan sei wunderschön, Weißrussland langweilig und Russland am Ende. Sie zählte die mit Krieg überzogenen ehemals sowjetischen Gegenden auf, den Kaukasus, Tadschikistan. In Minsk bekam ich später das hohe Lied auf die Nation in der weißrussischen Version zu hören.
Im Umspurwerk von Brest wurde der Schienen Spur von 132 auf 160 cm verbreitert. In einer doppelt gespurten Halle hob man die besetzten Waggons einzeln an. Der Minsker Bahnhof hatte keine Bahnsteige. Im Dunklen meinte man auf freier Strecke zu halten. Die Schaffner bedrängten uns. Sie vertrieben die Reisenden in biblischen Szenen, die einen zeitgenössischen Exodus illustrieren konnten. Dass in Minsk zwei Millionen Menschen lebten, wurde einem nicht klar. Die Stadt war spakoyno. Sie war bis auf die Grundmauern im 2. Weltkrieg zerstört worden. Man hatte das Regierungsgebäude originalgetreu wieder aufgebaut - im Stil sowjetischer Gigantomanie. Die Altstadt war ein Fehlschlag der Restauration. Man musste sowjetische Architektur lieben, um Minsk schön zu finden.
Die Lenin-Statue stand noch. Der Platz hieß nun Unabhängigkeitsplatz. Bei 20 Grad minus waren die Straßen spiegelglatt. Kinder spielten Eishockey.