Er ist der Unbestechliche schon im Habitus. Ein kerzengerader Mecklenburger mit dem Humor in der Hinterhand. Ein Auslassungskünstler, der auch anders kann. Minutenlang bedenkt Uwe Johnson das Lächeln eines Ansagers. Er unterstellt diesem Lächeln Eigenschaften, die andere Männer an ihren Frauen in langen Ehen entdecken. Das wird immer wieder hervorgehoben: Alles, was Johnson als Kritiker im Jahr drei der Mauer bespricht, hat er nur einmal gesehen. Der Fernseher steht ihm als Leihgabe des „Tagesspiegel“ zur Verfügung. Er steht als erwünschter Fremdkörper in der Wohnung des von Ost nach West „umgezogenen“ Schriftstellers. Johnsons Vorschlag lautet: „Wenn ihr das Ostberliner Programm druckt, dann rezensier ich euch das.“
In publizistischer Opposition zu Springers DDR-Boykottpresse meldet nun der „Tagesspiegel“, was dem anderen Deutschland gezeigt wird. Das Fernsehprogramm der DDR soll länger kein Gegenstand des Kalten Kriegs sein, sondern eine nachbarschaftliche Angelegenheit im Jahr 1964. Diese Angelegenheit kritisch wahrzunehmen, stößt der Normalität eine Tür auf. Die Rezensionen richten sich implizit gegen Bonner Verteufelungen von allem „Sowjet- oder Ostzonalen“. Der Rezensent leidet unter Heimweh. „Als Missstand“ hält er die deutsche Teilung für behebbar.
Gesine Cresspahl ist Johnsons Marilyn Monroe im auffliegenden Kleid über dem New Yorker U-Bahnschacht
Uwe Johnson dachte wohl eine Weile darüber nach, wen er zur Hauptträgerin seiner literarischen Gewichte machen wollte. Auf einer sehr langen Linie entschied er sich für Gesine Cresspahl. Die Mecklenburgerin mit dem geraden Herzen betrachtete die Welt Jahrzehnte mit den Augen ihres Schöpfers. Er veredelte sie im Geist des sozialdemokratischen Antifaschismus.
Johnson lieh seiner Gesine jede Menge kleidsame Ansichten. Er machte aus ihr eine Weltbürgerin. So verwandelte der Autor die Not, nicht daheim in Mecklenburg leben zu können, in etwas frühlingshaft Verwehtes. Gesine ist Johnsons Marilyn Monroe im auffliegenden Kleid über dem New Yorker U-Bahnschacht.
Uwe Johnson, „Karsch, und andere Prosa“, mit einem Nachwort von Walter Maria Guggenheimer, Vorschläge für Johnson-Leser der neunziger Jahre von Norbert Mecklenburg, Suhrkamp, 15,-
Karsch kommt als Gesines Gegenspieler in die Arena. Der erfolgreiche Journalist trägt das Schnapsgepäck des Autors und ahmt die steifnackige Art nach. Karsch kennt sich auf den Kontinenten aus. Geht es aber ans Eingemachte, dann kauft sich Karsch im bäurischen Bestand nahe der Wasserkante ein.
Von Wert ist das norddeutsch Bewährte. Als Mecklenburger kann man schon mal den Hamburger spielen, solange einem selbst der Unterschied klar bleibt.
Karsch bezieht sich in besonderer Weise auf den Radrennfahrer Täve Schur, dem wahrscheinlich größten, auf jeden Fall linientreusten DDR-Sportidol. Schur wurde Ende der 1950er Jahre zweimal Straßenweltmeister. Er gewann die Internationale Friedensfahrt als erster Deutscher, nahm an zwei gesamtdeutschen Olympiaden teil und bewies seine gewissermaßen ewige Popularität als neunmaliger DDR-Sportler des Jahres.
Am 17. Mai 1955 gewann Täve Schur zum ersten Mal die Friedensfahrt. Da war er schon ein berühmter Mann.
Bei Johnson heißt der sozialistisch jauchzende Athlet Achim. Der systemkritische Autor hadert mit der hymnischen Loyalität seines Helden, der als Nachwende-Verklärungsmaschine eine Spur legte, die bei der nächsten Renaissance des Sozialismus freigelegt werden wird.
„Man sagte ihm Macht und Redlichkeit nach, als könne er sich verwenden für unschuldig Verhaftete, für Gerechtigkeit überhaupt.“
Achim mache aus den Herrschenden „vorstellbare Menschen“.
Johnson ahnte nichts von post-realsozialistischen Nostalgien. Im Hier & Jetzt seiner Epoche war der Ostblock in Stein gemeißelt. Der kalte Krieg konnte allenfalls einen Vorgeschmack auf das bieten, was ein unumkehrbarer Geschichtsverlauf unweigerlich mit sich brachte.
Johnsons Alter Ego Karsch befragt den abgeschirmten, hoch privilegierten und sich seiner intellektuellen Limitierung unproblematisch bewussten Premiumsozialisten. Achim lässt sich das gefallen. Er schickt Karsch zu Leuten, die ihn von früher kennen. Er will nicht den Eindruck aufkommen lassen, es gäbe da etwas, dass nicht ruchbar werden solle.
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Johnson konserviert in seiner Prosa eine Marke deutsch-deutscher Missverständnisse, die gewiss niemand mehr auf dem Schirm hat. Es gab Bundesbürger, die sich der westdeutschen Wehrpflicht in die DDR entzogen, weil sie glaubten, da um den Kasernenmief herumzukommen.
„Sie kamen weg von der westdeutschen Wehrpflicht; sie wollten nicht annehmen, was Karsch ihnen mitteilte über die ostdeutsche.“
Die erste Geschichte heißt nach einem Aberglauben Osterwasser. Sie spielt gleich nach dem Krieg. In gewisser Weise ist der Krieg noch gar nicht vorbei. Die Einquartierten sind nach allgemeinem Verständnis Vertriebene und Flüchtlinge. Das DDR-politisch-korrekte Umsiedler verstellt als Begriff noch nicht den Blick auf die unmittelbare Erfahrung. Gesine Cresspahl (die im Johnson-Kosmos Jahrzehnte bildbestimmend bleibt) erlebt die Fremden im Vaterhaus mit zwiespältigen Empfindungen. Manche sind der Dispatcher-Tochter nicht geheuer, andere bedauert sie. Zu dem obdachlosen Jakob baut sie eine halb-geschwisterliche Beziehung auf. Auch Jakobs Mutter dürfte ihr näher kommen als die meisten. Allein, die Frau bewahrt sich ihre Reserve gegenüber der angestammten Hausgemeinschaft.
Gesine befolgt eines frühen Morgens die Anweisungen des Osterwasserbrauchs. Im Wald gerät sie an einen versprengten Soldaten. Jakob schaltet sich in der Rolle des lautlosen Verfolgers ein und klärt auf der Linie. Der Knabe erscheint so kantig wie ritterlich. Johnson erschafft (sich) in Jakob ein früh ersterbendes Echo von Gesines hagestolzen Vaters. Der ultraknochige Alte verkörpert jede Menge wasserkantige Klischees. Seit seine Frau gestorben ist, kümmern sich eine Reihe von Nenntanten um Gesine. Davon handelt die Anschlussepisode.
Johnson schildert ein sozialdemokratisches, kirchenkritisches Milieu, das von den Nazis aus der Fassung gedreht und nach dem Krieg in der sowjetisch besetzten Zone nicht mehr auf die Beine kam. In der Handlungsgegenwart erleidet Cresspahl ein Orientierungsdesaster. Er erkennt, dass gegen Hitler gewesen zu sein, keine ausreichende Basis für das Weitere ist.
Seine Einsichten gewinnt Cresspahl in Jerichow.
„Wer das Jerichow der Jahrestage oder der Mutmaßungen über Jakob sucht, kann es in Klütz, am nordwestlichen Zipfel Mecklenburgs versuchen zu finden. Von Berlin in den Klützer Winkel sind es mit Bahn und Bus 270 Kilometer.“ Aus der Welt
Es gibt keine biografische Verbindung zwischen Johnson und Klütz. Das erstaunt in Anbetracht der Präsenz, die Klütz in Johnsons Werk hat. Der Autor prägt im Präsens seiner Produktivität die Klützer Topografie seiner fiktiven Hauptstadt Jerichow ein.
Mecklenburger Gemeinheiten
Nach dem Krieg kommt Johnson als Geflüchteter nach Güstrow. Das ist nicht weit weg von Waren an der Müritz, wo zur gleichen Zeit Heiner Müller als Sachse sich Mecklenburger Gemeinheiten gefallen lassen muss. Man bindet den „Ausländer“ an einen Marterpfahl. Das ist eine andere Geschichte.
Heimweh nach Mecklenburg
Er sei am Heimweh wie an einem schweren Fieber gestorben. Mit dieser Diagnose verabschiedete sich Günter Grass öffentlich von Uwe Johnson. Für mich ist GG in einem solche Ausmaß diskreditiert, dass mir sogar sein Nachruf auf den komplizierten Gefährten wie eine Verrohungstat vorkommt; wie eine unerträgliche Einmischung in innere Angelegenheiten der Gelehrtenrepublik meiner Kindheit und Jugend.
Jerichow war die Zentrale einer ungestillten Sehnsucht nach Mecklenburg/Pommern und dem baltischen Licht über der Ostsee. Johnson kursierte in der westlichen Hemisphäre mit der Behauptung, als echter Pommerer nur in Mecklenburg kein Fremdling zu sein. Viele Schilderungen des Schriftstellers variierten das Genre des Fremdlings zum Fürchten. Akademiekolleg:innen hoben hervor, wie unnahbar, wenn nicht sogar bedrohlich Johnson unter ihnen den Hecht im Karpfenteich spielte. Im Nachgang behaupteten manche, Johnsons sinistre Schauseite putzte ein ablandiger Humor.
Ihm fehlte das Umgängliche; der männliche Liebreiz. Er nahm den Feind beim Wort und drehte ihm das Wort im Hals herum.