„Ich wusste, wenn sie (die Taliban) mich erwischen, überlebe ich das nicht.“ Aryana Sayeed
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„Kaum jemand hatte erwartet, dass sich eine Armee von 300.000 Mann einfach auflösen und die Waffen niederlegen würde angesichts einiger Tausend barfüßiger, ignoranter und bösartiger, bärtiger Männer mit Turbanen, die auf Motorrädern unterwegs waren.“ Aryana Sayeed
Die Eltern zählen zum Establishment. Ihre Domänen sind der Rundfunk und die Literatur. Sie ermöglichen ihrer Tochter den allerselbstverständlichsten Zugang zu einer gehobenen Bildung in einem Rahmen aus Würde und Respekt. Dies geschieht „zur Zeit der sowjetischen Invasion und des ersten Afghanischen Krieges“.
„Plötzlich ging es ums nackte Überleben.“
Das berichtet Mina Sharif. Das Drama der Flucht und des Exils ordnet die Chronistin den Eltern zu. „Es war ihre Geschichte.“ Die eigene Traumatisierung registriert sie wie aus großer Ferne in den Echos körperlicher Reaktionen. Die Familie etabliert sich in der kanadisch-afghanischen Diaspora. Der Identitätstank ist groß genug, um von der ersten Heimat mehr als ein Andenken zu bewahren. 2005 kehrt die Expatriierte nach Kabul zurück. Sechs Monate will sie bleiben. Daraus werden fünfzehn Jahre. Sie enden mit der zweiten Flucht.
Nahid Shahalimi, „Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan“, mit einem Vorwort von Margaret Atwood, Suhrkamp, 22,-
Mina Sharifs perpetuierte Fluchtnomadenexistenz wirkt wie eine Kollision mit dem aufgerückten Mittelalter. Einerseits zählt die Produzentin zu den versierten Nutzerinnen der Mobilitätschancen in einer globalisierten Welt, andererseits wird sie von vorsätzlich Rückständigen in ihren Rechten beschnitten.
Prisen der Niedertracht
Die Reaktion lauert schon auf Gelegenheiten, der institutionalisierten Frauenfeindlichkeit Nachdruck zu verleihen, als Mina Sharif förmlich berauscht vom Glück der Heimkehr und noch mit dem Schwung der kanadischen Freiheit Afghanistan auf Vorderfrau bringen möchte.
„Ich war verliebt, noch bevor das Flugzeug auf der Rollbahn aufsetzte, und das spüre ich jetzt noch, wenn ich mich daran erinnere. Die Landung als Rückkehrer hat einen besonderen Zauber, den nur wenige verstehen können. Ich habe alles von der ersten Minute an geliebt.“
Sie droht ständig auf Minen zu treten, so buchstäblich wie metaphorisch. Ein mit den Verhältnissen Vertrauter weist Mina Sharif an, „genau seinen Fußspuren zu folgen, um nicht auf Minen zu treten“. Sie trifft den Chef eines Senders, einen Mann von rüder Autorität, der sein anachronistisches Frauenbild zum Maßstab auch für die Angestellten macht. Er „verhört“ die neue Kollegin.
„Er wollte wissen, warum ich als afghanische Frau allein hier war.“
Uns alle packte das Entsetzen, als wir – im medialen Echo der Weltereignisse - die Taliban auf Kabul vorrücken sahen und aus den Nachrichten erfuhren, dass bereits informelle Gespräche mit den künftigen Machthabern in Gang gekommen seien und die ersten diplomatischen Kanäle zur Kanaille gebohrt würden. Vor dem Fernseher die Fassung zu verlieren, ist billig. Ich las dann die journalistisch arrondierte Klage eines Afghanistan-Veteranen der Bundeswehr. Er nutzte ein großes Periodikum für einen kleinen Einblick. Beim Bier zum Feierabend vor Jahren. Ein Ausbilder unterhält sich mit einer Ortskraft. Der Einheimische sagt:
„Irgendwann werdet ihr weg sein, dann werden die Taliban immer noch da sein. Und die wissen, wer wir sind.“
Spätestens in diesem Augenblick hätte es dem Ausbilder wie Schuppen von den Augen fallen müssen. Die Ortskraft würde niemals die Demokratie verteidigen, jeder vor Ort ausgegebene Steuereuro verbesserte eben auch die feindliche Infrastruktur. Illustriert wurde das von einer TV-Szene, in der islamische Zeloten kurz nach dem Fall von Kundus in der Fitnessbaracke des aufgegebenen Feldlagers mit Kurzhanteln spielten. Sie wirkten beinah ratlos, ob der Fülle. Sie erschienen als Beschenkte, obwohl sie Geächtete sein sollten.
Wie konnte das passieren?
Tage nach dem finalen Achselzucken des Westens entschlossen sich Leidtragende am Brennpunkt und im Dunstkreis des Desasters zur Publikation eines Sammelbandes mit dem Fanalcharakter eines Aufschreis.
„Die Entscheidung, ein Buch mit Beiträgen von Frauen aus Afghanistan herauszubringen, fiel ... nach der Einnahme der Hauptstadt Kabul durch die Taliban am 15. August 2021.“
Es ging um Transformationen von „Sprachlosigkeit, Wut, Trauer und Ohnmacht“.
Margaret Atwood meldet in einer Grußadresse ihre Faszination für den Umstand, dass „kein ausländischer Invasor einschließlich der Briten“ jemals in Afghanistan Fuß fassen konnte. Die Majestätische stellt klar: „Ohne Frauen kann kein Land lange bestehen. Egal, wie sehr ein Regime Frauen hasst und straft, ganz ohne sie kommt es nicht aus. Aber von welcher Art werden diese Frauen sein? Wir werden es sehen.“
Nie habe sie die Zeit gehabt, um zu trauern, erklärt Herausgeberin Nahid Shahalimi. Die Katastrophen jagten sich und jagen sich weiter in einer Kumulationszone der Ungerechtigkeiten.
„Die Taliban haben das Land unter den Augen einer fassungslosen Öffentlichkeit unter ihre Kontrolle gebracht.“
Nach Shahalimi äußert sich die Kabuler Musikerin Aryana Sayeed. Ihre Biografie exemplifiziert das Leid von Expatriierten, die vor lauter Sehnsucht nach ihrer Heimat zu Weltkünstler:innen geworden sind. Frei von Pathos, erklärt Aryana Sayeed: „Ich wusste, wenn sie (die Taliban) mich erwischen, überlebe ich das nicht.“
Aus der Ankündigung
Dieses Buch lässt 13 hochkarätige und couragierte Frauen aus Afghanistan in Textbeiträgen und Interviews zu Wort kommen. Sie schreiben über berufliche und gesellschaftliche Errungenschaften als Programmiererin, Filmemacherin, Politikerin, Journalistin u.a.m.; sie berichten über die Angst und den Schmerz vor dem drohenden Verlust der Heimat, aber vor allem über das, was die Mädchen und Frauen vor Ort schon jetzt verloren haben: Freiheit, Selbstbestimmung, Lebensfreude.
Entstanden ist ein aufrüttelndes Buch, verbunden mit dem Appell, afghanische Mädchen und Frauen nicht zu vergessen und sich zu solidarisieren, denn sie haben wie wir ein Recht auf ein freies Leben in Würde. Ein Recht, für das wir an ihrer Stelle in der freien Welt kämpfen müssen, denn Afghanistan ist nur geografisch weit weg. Radikale Ideen kennen keine Grenzen.
Mit einem Vorwort von Margaret Atwood und Gastbeiträgen von Theresa Breuer, Dr. Inge Haselsteiner, Susanne Koelbl, Düzen Tekkal und Prof. Dr. Maria Wersig.