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2022-01-23 08:39:07, Jamal Tuschick

Soziale Jägerzäune

Wir wissen es alle. Didier Eribon und Steffen Mau haben im Kohortendenken der Postbabyboomer:innen Türen aufgestoßen und jede Menge Vorstadtlebensläufe aufgewertet. Die soziologisch diagnostizierte Herkunftsscham und ihr Gegenteil sind zu Schlüsseln des Begreifens geworden. Eingehegt von den Jägerzäunen des tiefen Mittelstandes, kommen viele nicht umhin, sich gleichzeitig privilegiert und beschämt zu fühlen.

Herkunftsscham

Ich wähnte mich in der gesellschaftlichen Mitte, bis ich kapierte, dass ich ein Aufsteigerkind war, dass sich für seine Eltern schämte, erklärt Milijana P. in einem Therapiegespräch. Das erinnert mich an eine Bemerkung, mit der Thomas Bernhards Halbbruder Peter Fabjan den Lebensmenschen des Genies einführt. Fabjan zitiert seinen Vater so:

„‚Die hat ihr Leben lang nie gearbeitet‘, sagte er über diese ihm völlig fremd gebliebene Frau. Daraus ergab sich für den Urteilenden eine „Gesellschaftsunvereinbarkeit.“

Ungezwungenheitsveitstänze

Die Rede ist von Hedwig Stavianicek, die ihrerseits auf die Standesunterschiede bestand. Den mediokren Verwandten ihres Thomas sprach sie in der dritten Person an. So interagierte man k.u.k.-mäßig mit Personal.

Vermutlich kam der Trug, dem Mittelstand entschlüpft zu sein, aus dem Wunsch, mit möglichst wenig Abweichungen in einer (bei Licht betrachtet) Unterwerfung erheischenden Umgebung aufzuwarten.

Ich habe mich immer geschämt, so Milijana weiter. Vor allem schämte sie sich für ihre „unkonventionelle“ Mutter und deren Ungezwungenheitsveitstänze. Das Kind Milijana kritisierte, dass die Mutter nicht in der Normspur lief, sondern eine abdriftende Performance ablieferte. Sie unterstellte der Nachbarschaft Vorbehalte, die nie bestätigt wurden.

Schon im Kindergarten habe sie die Frisur der Mutter unmöglich gefunden, erinnert Milijana. Die Frau erschien ihr einfach nicht gut genug angepasst. Ein freies Gebaren verstärkte den Eindruck, dass die Mutter sich mit ihrem Übergewicht produziere - in einem ländlich rigiden Milieu.

Es sei in erpresserischer Weise stets um die Körper der Frauen und Mädchen gegangen. Das war die Leine, an der alle liefen. Keine wollte unmöglich aussehen. Es gab eine Sippenhaftung für auffällige Kinder und Mütter.

Auch die Sprache diente der Sozialkontrolle. In manchen Zusammenhängen musste man sich mit dem Dialekt ausweisen. In anderen durfte man nicht in den Dialekt verfallen.