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2022-01-27 08:11:40, Jamal Tuschick

Stupider Rhythmus des Lebens

Drei Quadratmeter Hoffnung

Im Frühjahr 1808 hebt ein Sträfling im Landkreis von Sydney einen Klumpen auf vom Acker. Er staunt einen Augenblick zu lang, schon steht ihm der Aufseher bei.

„Was haben wir denn da?“

Im Sommer 1808 übernimmt William Paterson den Posten des Gouverneurs von New South Wales. Er folgt dem kaum in Erscheinung getretenen Foveaux, dessen Vorgänger, der glücklose, von korrupten Offizieren gemobbte William Bligh, auf sein königliches Mandat pocht. Bligh ist eine nautische Ausnahmeerscheinung. Seine kartografische Genauigkeit hilft Seefahrer:innen noch im 20. Jahrhundert. Trotzdem könnte sein Ruf kaum schlechter sein. Paterson lässt Bligh auf eine dubiose Anklage hin festsetzen und löst so einen Skandal aus. Im Weiteren geht Paterson in der Botanik auf. Er bestimmt Pflanzen im Busch von Down Under. Die Goldfundkunde erreicht ihn als Letzten. Da er die Entvölkerung der Kolonie fürchtet, ordnet er Stillschweigen an.

Längst sind alle auf den Beinen. Der Goldrausch leistet der Besiedlung Australiens unerwartet Vorschub. Bis dahin erwartete die Krone nur eine Kultivierung der Küstenstreifen. Einschätzungen des Landesinneren entsprechen dem Blick des Landwirts, der an den Boden Ansprüche stellt, von denen ein Goldsucher nichts weiß. Der stärkere Anreiz bewirkt auf lange Sicht eine Belebung unwirtlicher Gegenden. Den Effekt versucht man mit staatlichen Programmen vergeblich zu erzielen.

An Ufern eines schießenden Bachlaufs stauen sich plötzlich Hunderte. Im Bach stehen Goldwäscher:innen Spalier. Missmutig mustern sie die Nachkommenden. Kein Mensch kriegt mehr als drei Quadratmeter Hoffnung. Dafür zahlt er der Regierung zwanzig Schilling. Leute schließen sich in Claimgenossenschaften zusammen, in Sydney gibt es keine Mägde und Knechte mehr.

Der Auflauf in einem Tal, das gestern noch von jedem übergangen worden wäre, verlangt nicht mehr Sittlichkeit, als unter freiem Himmel zu kriegen ist. Das Schwemmland birgt Ton, an dem Gold klebt. Das Gold lässt sich einfach abklauben und einsacken. Gold steckt in Quarz, es sandet auf dem Bachboden. Den Wert des Quarzes kümmert keinen. Keinen kümmern Profite aus dem Abbau von Granit, Kalkstein, Marmor, Kohle, Kaolin, Kupfer, Blei. Egal ist, was Salzgewinnung und Fischfang bringen. Man übersieht Felder voller Meteoritenschrapnelle. Das Goldfieber greift die Hirne an. Es schafft einen stupiden Rhythmus des Lebens.

Das Fieber bringt die Zivilisation zum Erliegen. Die neuen Anschauungen sind steinalt. Wo man früher jemand erst einmal auf den Zahn fühlte, bricht man ihm jetzt gleich den Kiefer. Dem freien Lauf der Gefühle unterwirft man alles. Das setzt Tote auf die Tagesordnung. Schon mischen sich Deportierte unter freie Emigrant:innen. Sie konnten sich leicht losreißen, da ihre Wächter:innen in Frauschaftsstärke dem Gold nachjagen.

Desertierte treffen Deportierte. Nun stiftet das Glück den Rang und bestimmt, wie viel Achtung einer fordern kann. Wer Gold hat, ist Herr. Ist mehr als ein Offizier ohne Gold. Interessant werden solche, die geheime „Goldplätze“ kennen. Delinquenz erhöht die Glaubwürdigkeit. Ehemalige Sträflinge, die als Hirten Bewegungsfreiheit genossen, oder Umgang mit solchen Wandervögeln hatten, verkaufen den Knasttratsch und das Rumgerede vergangener Tage als totsicheren Tipp an Meistbietende. Sie führen Ahnungslose an die Enden der Welt.

Enttäuschte des ersten Runs ziehen weiter. Der Wahnsinn zieht mit ihnen immer weiter in die Wildnis. Bald kommt es dahin, dass Leute an beliebigen Stellen zu graben beginnen. Chines:innen reaktieren von Europäer:innen aufgegebene Fundorte. Townships entstehen. Dem Ex-Sträfling Josh Singer zahlt man hundertvierzigtausend Pfund Sterling für einen Flecken in unerforschten Weiten, der ihn dreiundsiebzig Pfund gekostet hat. Singer deutet den schlagartigen Reichtum als Auftrag Gottes, eine eigene Kirche zu gründen - The Singer Church.