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2022-03-22 08:15:25, Jamal Tuschick

Auf den Großmärkten der Schönheitsindustrie wiegen Imageschäden schwerer als Identitätsverluste.

Idiotische Männer

The Bonfire of the Vanities 2.0

Wer bin ich?

Jedes Kind stellt sich diese Frage. Sie bleibt der stärkste Motor in adoleszenten Experimenten. Schließlich gewinnt vermutlich jede(r) ein Bild von sich, mit dem sie/er sich identisch erklärt. Dann sagt sie/er:

Das bin ich.

Im Verlauf der Jahrzehnte werden Ich-Behauptungen brüchig. Es kommt zu Valeurverschiebungen. Doch wenn das Leben gelingt, erkennt frau/man am Ende die Richtigkeit der meisten Startannahmen.

Emily Ratajkowski, „My Body. Gespräch unter Freundinnen“, Deutsch von Stephanie Singh, Penguin, 20,-

Damit sich der Kreis schließen kann, muss ein Mensch alle wesentlichen Feststellungen zu seiner Identität selbst treffen. Diese selbstfürsorgliche Macht zerfällt im Ansturm des öffentlichen Interesses. In ihren Essay zieht Emily Ratajkowski Trennlinien zwischen sich und anderen Selbstdarstellerinnen, um sie im Betrachtungsnachgang kaum für unüberwindbar zu halten.

„Ich habe gelernt, dass mein Bild - das Bild, das öffentlich von mir wiedergegeben wird - nicht mir gehört.“

Auf den Großmärkten der Schönheitsindustrie wiegen Imageschäden schwerer als Identitätsverluste.

Selbstherrliches Begehren

Ihre aktuelle Reichweite verdankt Ratajkowski gewiss nicht der selbstherrlichen Begierde mächtiger Männer. Doch verbindet sich ihr Erfolg mit Erfahrungen im Spektrum patriarchaler Anmaßung. Die Übergriffe in der Vergangenheit wirken toxisch in der Gegenwart.

Die Essayistin Ratajkowski beschreibt aus eigenem Erleben, was andere Autorinnen allenfalls imaginieren können. Sie steht auf dem Dach der Welt, soweit es ihr Fach betrifft. Trotzdem sieht sie sich Angriffen und Verletzungen ausgesetzt, die ihre Mittel zur Gegenwehr übersteigen. Ratajkowskis Schilderungen liefern Innenansichten von Verhältnissen, die ich nur aus dem Kino kenne. Einer zeitgenössischen Fassung von The Bonfire of the Vanities könnte Ratajkowski das Drehbuch liefern.

In beinah allen Essays baut sich folgender Gegensatz auf. Die Tochter von intellektuell regen, glücklich in Los Angeles verankerten Eltern verfehlt viele Arenen ihrer persönlichen Interessen, da auf all ihren Wegen Kaperfahrer:innen lauern, die es auf Profite abgesehen haben, die sich aus ihrer Schönheit ergeben. Ratajkowski gerät auf einen Schlingerkurs des leicht verdienten Geldes und anderer Verlockungen. Sie übersieht Tücken des Ruhms. Zu spät begreift sie die Mechanismen der Enteignung.

Nicht lange hält sie Instagram für den Ort, „an dem ich kontrollieren (kann), wie ich mich der Welt (präsentiere) … (für einen) Schrein meiner Autonomie“.

Ratajkowski warnt vor den Risiken ihres eigenen Spiels. Seine Integrität gefährdet jede(r), der dem modernen Sirenengesang (von Schneewittchen im Like-Modus erschaffender Content-Konsument:innen) nicht widersteht. Komprimierte Fremdwahrnehmung und trivialkomplexe Ausdeutungen gewinnen die Durchsetzungskraft von Regierungen. Als Selbstvermarkterin läuft Ratajkowski ständig Gefahr, für das Produkt gehalten zu werden, das sie bewirbt. Gleichzeitig liefert sie Instagram-Nutzer:innen noch größeren Kalibers Kunst und Kommerz befeuernde Vorlagen.

Ratajkowski analysiert eine - aus ihrer Perspektive - albtraumhafte Urheberrechtslage.

“As somebody who has built a career off of sharing my image, so many times -even though that’s my livelihood - it’s taken from me and then somebody else profits off of.” Harper's Bazaar

Ein von Ratajkowski auf Instagram gestelltes Foto verwandelt Richard Prince in ein Kunstwerk, dem die Weihen der Hochkultur zukommen. Ratajkowski frustriert die an ihr vorbeilaufende Aufwertung einer von ihr im Rahmen der Aufmerksamkeitsökonomie profan geleisteten Instagram-Arbeit. Sie kritisiert den chauvinistischen Prozess, in dem „ein Bild, das von meiner Plattform stammt … zur wertvollen und bedeutsamen Kunst eines Mannes gemacht“ wird.

Sie kontert kreativ und wehrt sich mit einem Medien-Move.

“Ratajkowski trolls an art troll”, schreibt Jacob Kastrenakes in The Verge. Er führt aus:

“The Richard Prince painting is itself a copyright nightmare. It is a print of an Instagram post by Ratajkowski, which features a photo of …”

Bald mehr. Dann geht es um den Fotografen Jonathan Leder, dem Ratajkowski schwere Vorwürfe macht.

My Body

Ikone auf Probe

Emily Ratajkowski beschreibt eine ganze Reihe von Kontrollverlusten in der Konsequenz einer fremden Freiheit, die sich beklemmend auf sie auswirkt. Am Anfang ihrer Karriere postet sie das - ohne ihre Zustimmung entstandene - Paparazzo-Foto auf ihren Social Media Accounts:

„I learned … that despite being the unwilling subject of the photograph, I could not control what happened to it. (My lawyer) explained that the attorney behind the suit had been serially filing cases like these … ‘They want $150,000 in damages for your use of the image’.” Quelle

Komplizinnen des männlichen Blicks

Als Model trägt die großartige Essayistin Sachen zur Schau, die ihrer Persönlichkeit widersprechen. Sie zieht sich „vor älteren Fotografen“ aus, und lässt sich für Strandszenen einölen.

„Shootings für Wäsche und Bikinis wurden besser bezahlt als Standardjobs für den Onlinehandel.“

In Inszenierungen, zu denen oft ein Schmollmund gehört, nimmt Emily Ratajkowski laszive Posen ein. Für die Akteurin haben die Zurschaustellungen den allerprofansten Arbeitscharakter. Vorderhand geht es der Ikone auf Probe um Unabhängigkeit und Konsum.

„Meine seltene Oberweite war eine meiner Stärken und führte direkt zu höheren Gagen. Gleichzeitig schränkte sie jedoch die Bereiche ein, in denen in arbeiten konnte: Ich war ein ‚kommerzielles Bademoden-Model‘“.

„Geld bedeutete Freiheit und Kontrolle.“

Im Vorteil wähnt sich Ratajkowski gegenüber jenen Freund:innen, die nach gescheiterten Starts ihre Selbstständigkeit und ihren Status einbüßten. Nicht wenige kehrten in ihre Elternhäuser zurück und verbrauchen nun ihre Hoffnungsüberschüsse in der Dienstleistungsbranche.

Jenseits der pragmatischen Abdeckung eines institutionalisierten Intimitätsverlustes wirkt eine stärkere Kraft unter den Vorzeichen des Schönheitswahns. Ratajkowskis Mutter, Lehrerin von Beruf und akkurat in allen Lebenslagen, erachtet weibliche Schönheit als Qualifikation. Sie setzt (vielleicht nur halbbewusst) die Elevin einem so bizarren Exzellenzdruck aus, dass Emily jedes Mal verkrampft, wenn jemand sie in einen kompetitiven Vergleichsrahmen stellt.

Die Vorstellung, eine könne schöner sein, löst Krisen aus. Zum ersten Mal verstehe ich das Leiden an der eigenen Schönheit. Ihren illuminierten Aufzeichnungen stellt Ratajkowski ein Motto voran, dass ein weites Feld abklärt.

„Man malte eine nackte Frau, weil man sie gern betrachtete; man gab ihr einen Spiegel in die Hand, nannte das Gemälde Eitelkeit und verurteilte damit moralisch eben jene Frau, deren Nacktheit man zum eigenen Vergnügen abgebildet hatte.

In Wahrheit jedoch hatte der Spiegel eine andere Funktion. Er sollte die Frau zur Komplizin machen, sodass auch sie sich zuallererst als Anblick begriff.“

John Berger, Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt

*

Ratajkowski schildert einen unspektakulären Alltag in Los Angeles. Sie wohnt weit weg von den High Society Hollywood Hills, in einer günstigen Gegend, wo sich untere Mittelschichtdiversitäten mit Künstler:innen mischen. Die gentrifizierende Dimension artistischer Expansion macht sich noch nicht bemerkbar.

Ratajkowski findet sich zu klein, um in New York groß rauszukommen.

Dann bekommt sie ein Angebot, das sie erst einmal ausschlägt. Ratajkowski soll in einem Musikvideo auftreten. Erst will sie nicht. Regisseurin Diane Martel wirbt um sie. Sie verspricht eine von Frauen dominierte und so auch aufgeladene Zusammenarbeit. Der Dreh findet keine Viertelstunde von Ratajkowskis Zuhause in Silver Lake statt. Das Resultat einer zunächst inspirierten, dann aber enervierenden Studioarbeit geht durch die Decke weltweiter Aufmerksamkeit.

„Binnen Monaten wurde ich durch Blurred Lines weltberühmt.“

Auf allen Kanälen diskutiert man, ob „Blurred Lines“ frauenfeindlich sei. Ratajkowskis Einschätzungen orientieren sich zunächst nur an den Produktionsbedingungen bis zu einem bestimmten Punkt; an der beinah intimen Kollaboration von lauter Frauen im beruflichen Spektrum von Visagistin, Stylistin, Regisseurin und Darstellerin.

Das ist eine unvollständige Ansicht. Ich komplettiere sie gleich.

Das Publikum sieht lediglich den marktgängig-maskulin konnotierten Sex Drive. Ratajkowski leidet darunter, mit „Blurred Lines“ identifiziert zu werden; auch wenn sich der blitzartige Ruhm sofort auszahlt. Die alte Routine eines kalifornisch entspannten Fotomodells, das - technisch gesehen uneitel und schmerzfrei - seit seiner Schulzeit Katalogjobs abreißt, wie andere jeden Sommer an ihrem Lieblingsstrandabschnitt Wassersport-Equipment und Speiseeis verkaufen, zerfällt unter dem Druck einer weltweiten Betrachtung ihres (als persönliches Statement interpretierten) Körpers. Die Identität einer privilegierten Jobberin, die mit ihrer Pin-up-Figur weitgehend auf die Präsentation von Bademoden und Lingerie beschränkt war, kollabiert im Überbietungswettbewerb der Deutungshoheitsbehauptungen von Leuten, die sie nicht kennen, und die ihrer Rolle in dem Video vollkommen andere Bedeutungen geben als sie selbst.

„Seit meiner Schulzeit war das Modeln für mich nur ein Job gewesen, jetzt schien es mich plötzlich zu definieren. Ich geriet ins Trudeln. Ich hatte noch immer ein passives Verhältnis zu meiner Arbeit.“

Das ist die eine Seite. Die andere ergibt sich aus einem Übergriff von „Robin Thicke am Set“. Er ist der Star im Video. Um ihn dreht sich alles. Seine Bedeutung entkräftigte das feministische Empowerment der weiblichen Crew.

„Ich war nichts als ein gemietetes Mannequin.“