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Vor dem Hintergrund der aktuellen russischen Aggression und Putins postsowjetischem Hegemonialpostulat versteht man noch einmal anders und besser hoffentlich, was die Balt:innen seit Jahrzehnten umtreibt in jenem Herzen von Mitteleuropa, dass für Ignorant:innen viel zu lange bloß osteuropäische Peripherie im Hinterhof einer regressiven Weltmacht war.
„Lyrik ist der ungleiche Kampf eines einzelnen … Gedanken mit der trivialen Welt“. Adam Zagajewski
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„Die abwesende Präsenz des Urhebers ist die neue Signatur der Subversion. Es wird in seine Richtung nur gestikuliert, aber die unendliche Impulskugel-Reihe von spurlosen Signifikanten erreicht ihn nicht mehr.“ Anonymouth
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„Schreiben ist ein Entdeckungsvorgang, der nach innen geht.“ Michael Krüger
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„Es ist beschämender, seinen Freunden zu misstrauen, als sich von ihnen täuschen zu lassen.“ La Rochefoucauld
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In totalitären Gesellschaften „badet und atmet“ der Mensch „in der Lüge … in jedem Augenblick seiner Existenz (wird er) von der Lüge versklavt.“ Alexandre Koyré
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“Ich ziehe das Unglück an wie der Norden die Kompassnadel/ Wie der Magnet die Magneten, so zieht das Unglück mich an.” Tomas Venclova
Gleich im ersten Gedicht erinnert der Litauer Tomas Venclova an eine „Vergessene Mode aus der Tauwetterzeit“.
Tomas Venclova, „Variation über das Thema Erwachen“, auf Deutsch von Cornelius Hell, Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, 20,-
Vor dem Hintergrund der aktuellen russischen Aggression und Putins postsowjetischem Hegemonialpostulat versteht man noch einmal anders und besser hoffentlich, was die Balt:innen seit Jahrzehnten umtreibt in jenem Herzen von Mitteleuropa, dass für Ignorant:innen viel zu lange bloß osteuropäische Peripherie im Hinterhof einer regressiven Weltmacht war.
„Und Europa, verwahrlost, gehüllt in ein raues Laken“, sagt Venclova am Ende einer Seamus Heaney und Dublin gewidmeten lyrischen Stadtbegehung.
“Be advised my passport’s green. No glass of ours was ever raised to toast the Queen.” Seamus Heaney
Wir haben jetzt eine Chance Europa ukrainisch grün und neu zu denken.
1966 veröffentlichte Gerhard Wolf in der bei „Volk und Welt“ erschienenen Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“ eine Abhandlung über Johannes Bobrowski. Die Betrachtung beginnt mit einem biografischen Abriss. Der 1917 in Tilsit geborene Eisenbahnersohn brennt für das ländliche Flair der (damals) ostpreußischen Kreisstadt an der Memel mit ästhetischem Mutwillen. Bereits als Heranwachsender erkennt er die eskapistische Dimension seiner poetischen Perspektive. Er nimmt das Heimweh vorweg.
Später schreibt er: „Ein einziger Memelhof so groß wie die Mark Brandenburg.“
In der Landschaft seiner Kindheit will Bobrowski Bauer sein. Venclova wuchs keine hundert Kilometer von Tilsit entfernt in Klaipėda auf. Der Dichter stammt aus einer engagierten Familie, sein Vater war Bildungsminister und Stalinpreisträger. Der niedergeschlagene Ungarnaufstand 1956 eröffnete Venclovas Publikationsstrecke.
Das gescheiterte Volksbegehren machte aus dem Komsomolzen einen Dissidenten.
Venclova spricht hier und da von „der plötzlichen Einsicht, getäuscht worden zu sein. Ungarn wurde für mich das, was für Orwell und Hemingway der Spanische Bürgerkrieg gewesen war - das Ende der Gläubigkeit.“ - Ein Katalysator.
Sein lyrisches Ich erinnert sich, wie es zum ersten Mal „jenseits von Stacheldraht und den Scheinwerfern“ atmet. „Siehe Die Fahrpläne am 9. November“.
Durs Grünbein nennt Venclova einen diskret an Moden vorbei produzierenden, innerlich wunderbar gefassten Dichter, der in den UDSSR-Wettbewerben inverser Bedeutungen (in einer Sprache der Verbergung) stets erste Plätze belegte. Vielleicht muss man in einer Diktatur zur Schule gegangen sein, um die Freude am Kassiber zu begreifen.
1976 gründete Venclova die litauische Abteilung der internationalen Helsinki Gruppe. Die Organisation forderte die Durchsetzung von Freiheitsrechten auf dem Territorium der UDSSR, die in der KSZE-Schlussakte 1975 garantiert worden waren. Sein Engagement zwang den 1937 in Klaipėda (Memel) Geborenen zur Auswanderung.
Im roten Kreis der Anna Achmatowa- und Ossip Mandelstam-Erben steht Venclova stoisch neben Joseph Brodsky und Czeslaw Milosz.
Venclova nach Dante:
„Nel mezzo del cammin di nostra vita - Auf der Mitte unserer Bahn durch das Leben mi ritrovai per una selva oscura ché la diritta via era smarrita - Musst ich in Waldesnacht verirrt mich schauen, da ich den Pfad verlor des rechten Strebens.“
Aus der Ankündigung
Lyrik aus Litauen – „Tomas Venclova ist Litauens Stimme in der Weltliteratur. Ein lakonischer Elegiker und moderner Klassiker.“ Carsten Hueck, Deutschlandradio Kultur
Tomas Venclova ist einer der großen Dichter unserer Zeit. In seiner Heimat Litauen erlebte er den langen Winter des Totalitarismus, wegen seiner kritischen Haltung kam er in Bedrängnis. Es folgten Exil, Reisen und Heimkehr – die Lebensthemen seiner Lyrik –, doch als dieser unfreiwillige Weltbürger schließlich zurückkehrte, war das Land ein anderes. Was unverändert blieb, ist die rettende Kraft der Sprache. Stets beruft sich Venclova auf die Tradition der europäischen Literatur – von der griechischen Klassik bis zur Moderne. Lakonie, kristallklare Eleganz und feiner spöttischer Witz zeichnen seine Poesie aus, jene „unwirkliche Wirklichkeit", die sich unauflöslich mit der Erfahrung der Welt verwebt.