Sie ist Küchenhelferin mit Abitur, er räumt Tische ab. So geht das los im Sommer Neunundsechzig. Das betont Margret Franzlik: wie unvorbereitet sie die Begegnung mit dem angehenden Schriftsteller Wolfgang Hilbig traf. Eine Liebe am Arbeitsplatz mit der Anschrift Ausflugslokal Nonnenhof. Dreizehn Jahre später findet die Trennung statt, bis dahin wird das Paar kaum je zusammen wohnen.
Margret Franzlik, „Erinnerung an Wolfgang Hilbig“, Transit, 16.80,-
Margret Franzlik setzt sich in Berlin fest, Hilbig (in dieser Beziehung ein Mann ohne Vornamen) pendelt zwischen Berlin, Leipzig - und Meuselwitz. Da kommt er her, er wuchs (mit der Mutter) bei den Großeltern auf. Der Großvater war ein eindrucksvoller Mann. Margret Franzlik erzählt von ihm in lyrischen Miniaturen. Sie hat den Bogen raus, die Sprache folgt ihr aufs Wort. 1980 bringt sie ihre Tochter zur Welt, eine Weile wohnt die Familie in Berlin-Lichtenberg. Der Keller, ein Labyrinth voller Kohlen. Die Kohlen müssen in den vierten Stock. Ständig fällt die Elektrik aus. Aus Angst davor, abgehört zu werden, führt man Gespräche mit Freund:innen, ohne ein Wort zu sagen. Stattdessen werden Zettel verschoben.
Margret Franzlik studierte Journalistik in Leipzig, lange war sie Redakteurin. Hilbig, Jahrgang 1941, lernte Bohrwerksdreher, er arbeitete als Werkzeugmacher und Heizer in einer Maschinen-Fabrik. 1978 fuhr er wegen „staatsfeindlicher Handlungen“ ein, nach seiner Entlassung wurde er freier Schriftsteller. Er debütierte 1979 mit Gedichten, 1985 wechselte er in die Bundesrepublik. Zuletzt veröffentlichte Hilbig „Das Provisorium“, er starb 2007 im Rang eines Georg-Büchner-Preisträgers.
Auch eine Nachfolgerin von Margret Franzlik, die Westdeutsche Natascha Wodin, hat sich zu Hilbig gründlich geäußert. Interessant ist die Differenz im Ton. Plötzlich steht der in seiner Unerreichbarkeit wunderbare Wolfgang vor der Tür. Er kommt als Freigänger auf Lesereise. Wie sich bald herausstellt, ist er gekommen, um zu bleiben.
Hilbig selbst überliefert das in einer Ehe endende, fränkische Verhängnis in einem Dokument der Verwahrlosung – „Das Provisorium“. Nun also Margret Franzlik: „Ich weiß noch wie heute, wie es war, wenn ich, aus Zeitz kommend, in Wuitz-Mumsdorf Wolfgang Hilbig nach seiner Arbeit im Heizhaus in den Triebwagen mit den roten, mit Kunstleder bespannten Bänken steigen sah, die Arbeitstasche unter den Arm geklemmt. Warum hat mein Gedächtnis ausgerechnet jene Episode gespeichert, als ich mit Wolfgang Hilbig eines Nachmittags, seine Mutter war zur Kur gefahren, bei strömendem Regen im Garten ... gleich rechts am Eingang einen morschen Kirschbaum absägte.”
Hilbig verkörpert die Kunst ohne Kulturbeutel. Er ist eine “Ostpratze“. Der Vater, ein Schneider aus dem Eulengebirge, bleibt im Krieg als “Vermisster.” Die Klage der Ungewissheit. Margret Franzlik liest aus Briefen, die Max Hilbig als Soldat in Frankreich seiner Frau schrieb. In den Briefen ist der Sohn „das Wölfchen“. Max Hilbig verteilt Ratschläge, es geht ihm gut an der Westfront: „Heute gab es Wellfleisch und Sauerkraut.“ Er schneidert für Offiziere und spekuliert auf Sonderurlaub für seine Dienste an der Garderobenfront. Im Dezember ´42 wird Max Hilbig nach Russland verlegt, sein letztes Lebenzeichen datiert auf den 14. Januar.
Der Verlust des Vaters: ein lebenslanges Thema des Sohns. Das Glück eines sagenhaften Großvaters – in Polen geboren, als Bergmann in der Braunkohle von Meuselwitz eine Erscheinung. Er versorgt polnische Zwangsarbeiter mit Brot. Daheim zieht man Rüben und kocht den Saft ein. Eine Ziege namens Lisa steht im Hof. Schweine werden noch in den Siebzigern privat geschlachtet. Selbstversorgung im Revier. Morgens stehen die Leute Schlange, abends sind die Kneipen voll. Der junge Hilbig ist Boxer im Mittelgewicht. Er bestreitet siebzehn Kämpfe als Amateur. Er rudert und dreht Salti, wo andere nur einen Hechtsprung von der Brücke wagen. Margret Franzlik erwähnt Hilbigs Sixpack, „die Damenwelt war beeindruckt“. Die Auserwählte zieht mit dem Athleten um die Häuser von Meuselwitz. Sie erinnert herrliche Zeiten, mit Wehmut im Anschlag. Die Kumpel locken das Paar auf „ein Stündchen“ in die Kneipe, die Stunde weitet sich zu einer Nacht im Rausch. Hilbig fühlt sich „wie ein scheiternder Feldherr“, so schwer fällt das Schreiben. Alles andere erfolgt stets „auf den letzten Drücker“.
Margret Franzlik übersetzt Rimbaud für den Dichter, „Hilbig konnte keine Sprachen“. Verhaftet wird Hilbig an einem zehnten Mai, dem „Tag des freien Buchs“ in der DDR. Margret Franzliks Briefe in den Knast „retten“ den Delinquenten. Kaum fassbar, wie eindringlich Margret Franzlik die Dichternot schildert. Für Hilbig bleibt die DDR „ein einziges Fettnäpfchen“. Margret Franzlik schlägt ein Angebot der Stasi zur freien Mitarbeit aus. Die Ablehnung ist folgenlos.
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Vor Jahren erlebte ich Margret Franzlik im Berliner Literaturhaus.
Sie sagte das mit der Stasi.
Es kratzte keinen.
Westpublikum, Kudamm-Leute. Botoxmasken.
Gelähmte Gesichter.
Margret Franzlik erklärte: Sie habe das Buch auch deshalb geschrieben, um ihre Stellung im Gefüge der „Witwen“ festzustellen. Sie spielte ein Lied von Tom Waits, „Tom Traubert‘s Blues“, „das Lied mochte Hilbig sehr.“
Lange konnte sie die Briefe des Geliebten nicht lesen.
Man kennt solche Sperren.
Margret Franzlik beschrieb das Lichtenberger Arbeitszimmer: „Die Luft steht vor Zigarettenqualm, der Nichttänzer Hilbig tanzt mit der Tochter”, vielleicht zu „Tom Traubert‘s Blues“. Das Fenster darf nicht geöffnet werden, „sonst friert der Dichter“.
Eine Orchidee aus dem Gesundbrunnen-Center (im Wedding) in Sicht des Sterbenden, gehört nun der Erinnerung. Die Liebe endet nicht mit der Beziehung. Margret Franzlik kümmert sich um Hilbigs Mutter bis zum Schluss.