Er ist der glänzende junge Mann, ein Augstein unter Dichtern, so scharfsinnig wie flüchtig. Seine Vorsprünge wird er noch ausbauen, in einem Leben auf der geistigen Überholspur. Hans Magnus Enzensberger kennt seinen Rang, lange vor dessen Bestätigung. Er weiß, wer er ist. Allein das unterscheidet ihn von Ingeborg Bachmann, der er 1955 in einem Rahmen der Gruppe 47 zum ersten Mal begegnet. Zwei Jahr später fangen Bachmann und Enzensberger einen Briefwechsel an, in dem er sie zunächst hofiert und sie ihn zulässt.
Sie nennt ihn Mang. Sein kühler Kopf ist Bachmann nie ganz geheuer. Er verfällt ihr nicht, nichts zerreißt ihn. Er rationalisiert und kalkuliert, während sie sich immer wieder anders abhanden zu kommen droht – eine Erscheinung wie aus einem Roman von Alfred Andersch. In Bachmanns Leben verkörpert Paul Celan das Verzehrende und Max Frisch den moralisch unzulänglichen Dandy. Bachmanns Dramen nehmen das französische Kino der Sechzigerjahre vorweg und begleiten es.
Enzensberger lockt die Berühmtere aus der Reserve. Lockend behält er seine Reserve, während Bachmann aus sich heraus rauscht. Enzensberger will mit ihr „zusammen ein buch machen, ein buch das fliegen kann … zur widerlegung des raketenzeitalters“.
Zwei Jahre später zeigt er sich als Routinier der vertraulichen Ansprache. Er rühmt die „Blechtrommel“ und ist mit dem Lob schneller fertig als mit der Kritik.
Zu dem Glück, das Enzensberger heraushebt, gehört ein ganz und gar ziviles Wesen. Sein seelischer Abstand zum Krieg trennt ihn von all den knobelbechernden Verarbeitern des Soldatischen. Er muss nichts abstreifen und überwinden - und als Diagnostiker der Achtundsechzigeravantgardeaporien ist er noch lange nicht gefragt.
Bachmann verspricht, ihrem Mang stets zugetan zu bleiben, „auf diesem sehr kalten Stern“. Jede ihrer Zeilen lässt sich zum Titel erheben. Trotzdem behauptet sie, „hirnrissige und unmögliche Briefe“ geschrieben zu haben, so im Februar 1962 aus Rom, Walter Boehlich, den Frankfurter Untermainkai und das Engadin in einem Atemzug der Gewissheit überfliegend, dass Enzensberger das Nötige zur Einordnung parat hat. Viel dreht sich um Suhrkamp, der Verlag ist ein Nabel. Enzensberger dockt sprachlich an, wird pompös, will im Herbst „ein bisschen nach italien fahren“.
Er seift sie ein. Bachmann hüllt sich in ihre Sprachmäntel, verschanzt sich, bedrängt von Depressionen, hinter schwerwiegenden Formulierungen. Sie neigt dazu, aus jeder Liebespleite einen Roman zu machen. Sie traut ihren Aufwallungen viel zu. Praktische Dinge werden auch verhandelt, dann klart die Sprache auf und die lyrischen Zwanghaftigkeiten enden. Die Mitteilungen richten sich nicht an die Nachwelt. Zwischendurch wünscht Bachmann die Vernichtung ihrer Briefe. Enzensberger ignoriert das. Es gibt eine Sache über ihn mit dem Titel „Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich“. Das schon zu wissen, zeichnet den jungen Mann aus.
Die Eine: eine Lyrikerin und Cover-Girl des Spiegels 1954. Der Andere: der »zornige junge Mann«, Netzwerker, zugleich Strippenzieher im Literaturbetrieb, dessen Lyrik-Karriere 1957 startet. Ingeborg Bachmann (Jahrgang 1926) und Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929) lernen sich im Oktober 1955 bei der Tagung der Gruppe 47 in Tübingen kennen. Nach einem erneuten Zusammentreffen anlässlich einer Gesprächsrunde zur Literaturkritik in Wuppertal im Oktober 1957 kommt es am 27. November 1957 zur ersten (brieflichen) Kontaktaufnahme: Die Initiative geht von Enzensberger aus. Danach setzt eine Korrespondenz ein, von der insgesamt 130 Stücke überliefert sind: 53 von Bachmann, 77 von Enzensberger.
Die beiden emblematischen Figuren, die Ikonen, der deutschen Nachkriegsliteratur tauschen sich aus über Literatur im Allgemeinen wie über deren Details, über eigene Vorhaben (kritischer wie großer Moment: die Debatten um das legendäre Böhmen liegt am Meer, dem von Bachmann publizierten Gedicht in Enzensbergers Kursbuch), reflektieren über das Zeitgeschehen, polemisieren gegen alles und halten sich mit ihrem Urteil auch über die lieben Kollegen nicht zurück. Dabei prallen die unterschiedlichen (Schreib-) Charaktere aufeinander: Auseinandersetzungen, die der eine pragmatisch-ironisch ausficht, die andere prinzipiell.
Der bisher unpublizierte und unbekannte Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger macht nacherlebbar, wie zwei der überragenden Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die Welt, die Literatur, den Betrieb, sondern auch sich selbst darstellen und gesehen werden wollen.