Dass sich Mary Ruefles auf Clarice Lispector bezieht, passt zu den säkularen Epiphanien der Altmeisterin. Das Episodische, Flüchtige und Vergebliche dominiert in jedem Fall. Ruefles Miniaturen erfüllen nicht unbedingt die Funktionen poetischer Kleinode. Sie sind vielmehr Kassiber befremdlicher Botschaften, die wiederum als Echo eines Befremdens ankommen.
In einem Gebet für Clarice Lispector verkörpert sich die Erzählerin in einen „gelben Finken“. In der Todesstunde der Schriftstellerin inspiziert der Vogel einen Futterspender in Reichweite der Sterbenden. „Die schwarzen öligen Sonnenblumenkerne“ liegen seit Monaten an ihrem Platz.
Mary Ruefles, „Mein Privatbesitz“, Miniaturen, aus dem Englischen von Esther Kinsky, Bibliothek Suhrkamp, 18,-
„Ich war das letzte Lebendige, was sie sah, meine Verantwortung war groß.“
Die Prosa von Clarice Lispector trifft die Leserin stets unvorbereitet. Sie bewahrt ihr Geheimnis und hört deshalb nicht auf, überraschend zu sein. Ihre Strudel fesseln die Erfasste. Sie verliert sich wie in Labyrinthen.
Clarice ‘Chaya‘ Lispector kam 1920 im ukrainischen Tschetschelnyk als jüngste von drei Töchtern russisch-jüdischer Eltern auf die Welt. Die Familie floh vor Pogromen via Hamburg nach Maceió. In Brasilien fand sie eine neue Heimat.
Lispector erzählt von Frauen, die aus der Banalität eines unerfüllten Lebens herauswollen, ob als Gattinnen von Bigamisten, als Geliebte von Außerirdischen oder als von Gott Geschwängerte. Im Gegenlicht der Extravaganzen tauchen schemenhaft schroff Dolomiten der vernebelten Unmöglichkeiten auf. Sie erfüllen ihre Barrierefunktionen im Kontext einer patriarchalen Niederhaltungstechnologie. Die Protagonistinnen weichen ins Geträumte aus. Sie inszenieren sich in Imaginationen, triften ab und träumen weiter.
Ihre Träume füllen leere Räume.
Dass sich Mary Ruefles auf Clarice Lispector bezieht, passt zu den säkularen Epiphanien der Altmeisterin. Das Episodische, Flüchtige und Vergebliche dominiert in jedem Fall. Ruefles Miniaturen erfüllen nicht unbedingt die Funktionen poetischer Kleinode. Sie sind vielmehr Kassiber befremdlicher Botschaften, die wiederum als Echo eines Befremdens ankommen.
Antikes Äquivalent
Humphrey Stafford, 1. Duke of Buckingham (1402 - 1460), fällt Achtundfünfzigjährig in der Schlacht von Northampton. Man fragt sich, wie der alte weiße Mann aufs Streitross kam. Bereits Humphreys Vater Edmund starb im Kampf, wenn auch genregerecht zum Ausklang seiner Jugendblüte mit fünfundzwanzig. Den letzten Ritt absolvierte er in der Gegend von Shrewsbury (der einschlägige Vorort heißt heute noch Battlefield) an der Seite des ersten englischen Königs aus dem Hause Lancaster, Henry Bolingbroke.
Stafford entstand im 10. Jahrhundert auf einer Marschlandinsel als Anti-Dänen-Bollwerk. Die Herausbildung des Adels vor Ort erfolgte nach normannischem Muster. Zur Welt in Stafford Castle kam dann auch ein Graf von Staffordshire, der Pferdedung gegen Eifersucht verzehrte.
„Der Graf von Staffordshire war weitaus weniger exzentrisch als seine Vorfahren“, schreibt Ruefles über den schreibenden Count. An anderer Stelle bedenkt die Autorin die aus der Mode gekommene „Kunst des Kopfschrumpfens“. Ruefles wähnt sich allein auf der Welt mit Vorstellungen, die Schrumpfköpfe in einem Kontext von „Kunst und Konzept“ umkreisen. Einen Kopf im Miniaturformat zu konservieren, erreicht für Ruefles pyramidale Dimensionen. Der Vergleich mit dem archaischen Kolossal zielt auf ein antikes Äquivalent zum Mondflug.
Ruefles erinnert eine erhellende Bemerkung zum Thema der Titelgeschichte, „Mein Privatbesitz“, in Thor Heyerdahls abenteuerlichen Arbeitsbericht Kon-Tiki. Ein Floß treibt über den Pazifik.
Nach der Enthauptung und der Zertrümmerung des Schädels, dessen Bruch durch den Hals entfernt wird, füllt man heißen Sand in den Kopfhautbeutel. Ruefles beschreibt die Anfälligkeit der Schrumpfköpfe für Schimmel bei unsachgemäßer Verwahrung. In einem Fall aus dem Bekanntenkreis ergab sich die Notwendigkeit, das Präparat zum Lüften an eine Wäscheleine zu heften.
Aus der Ankündigung
Eine junge Frau besucht zum ersten Mal in ihrem Leben ein klassisches Konzert und schläft mittendrin ein. Später bemerkt sie, dass es sich um Brahms »Wiegenlied« gehandelt hat – war sie vielleicht gar die einzige Person im Saal, die die Musik wirklich gehört hat? Eine ältere Frau sinniert über die ihrer Meinung nach zu Unrecht aufgegebene Praxis der Schrumpfköpfe – wie gerne würde sie zwölf Schrumpfköpfe ihrer Ahnen in einer Eierschachtel aufbewahren und sie gebührend erinnern. Eine Frau in den Wechseljahren dokumentiert die Unentrinnbarkeit des Verfalls beherzt in einem Weintagebuch, »Montag 3 Mal geweint / Dienstag kein Mal / Mittwoch 1 Mal, ein bisschen.«
In Mary Ruefles 41 Prosaminiaturen wird das Profane, werden Obsessionen, Sehnsüchte und widersprüchliche Neigungen zum Katalysator von Erkenntnis. Mit Lakonie, Humor und einer markanten Gabe des Hinsehens stellt Ruefle die genau richtigen Fragen an das Leben und erschließt en passant die Traurigkeit und Schönheit unseres alltäglichen Tuns.