Wenige Monate nach dem Erscheinen der Streitschrift erreicht Max Czolleks Desintegriert euch! die fünfte Auflage. Im Studio Я beschreibt Czollek den Erfolg nicht als eine „persönliche Geschichte“ und schon gar nicht als „Genieeinfall“, sondern als „Phänomen“. Vermutlich lesen viele Leute, die eine Republik ohne AfD und ohne in den Instanzen verankerten Rassismus/Antisemitismus wollen, „Desintegriert euch“ wie einen Ratgeber. „Es sind alle willkommen“, sagt Czollek, „sogar die Deutschen“.
Der Autor stellt den Abend in einen historischen Rahmen. Er erinnert an die Novemberrevolution vor hundert Jahren. Am 9. November 1918 rief Friedrich Ebert in Berlin die Republik aus. Czollek sieht einen politischen Hoffnungsschimmer am sozialistischen Horizont, erzeugt von Gluthaufen des alten Revolutionsfeuers.
Vor zwei Jahren fand an Ort und Stelle der von Sasha Marianna Salzmann und Max Czollek kuratierte Desintegrationskongress statt, wo die nun den Diskurs bestimmenden Begriffe in der Kritik geprüft wurden. Im letzten Jahr präzisierten Aktivist*innen anlässlich der Radikalen Jüdischen Kulturtage das Counterstrike Programm einer jüdisch-muslimischen Leitkultur.
Neu ist das alles also nur für Leute, die eben erst „aufgewacht“ sind, wie ein Referent des Jüdischen Zukunftskongresses zuletzt den Umstand einhegte, dass auf den #unteilbar und #wirsindmehr Demonstrationen viele zum ersten Mal ihr politisches Gesicht öffentlich zeigen. Sie haben erkannt, dass wir eine außerparlamentarische Opposition im Achtundsechziger Kaliber brauchen und die Zivilgesellschaft aufgerufen ist.
„Desintegriert euch!“ dekonstruiert „das deutsche Selbstbild von einer offenen und toleranten Gesellschaft“.
Auf der Suche nach gelungener Integration kommt Czollek dahin: Die mächtigste Aufnahmeleistung sowohl der Bundesrepublik als auch der Deutschen Demokratischen Republik bestand in der Integration von Nationalsozialisten. Das Paradigma der Dominanzkultur, ich fasse zusammen, gründet auf dem „trügerischen Selbstbild“ vom geläuterten Deutschen und verzeihenden Juden. Man hat sich selbst begnadigt und den Opfern ihre Rollen im „Gedächtnistheater“ (Y. Michal Bodemann) vorgeschrieben. Das Zauberwort lautet Normalität. Die Deutschen haben sich eine neue Normalität herbei phantasiert. Das Phantasma erlaubt es, die Opfer auf dem Altar der Selbstgerechtigkeit sowie mit infamen Absichten weiter zu opfern – sie zu funktionalisieren und im Opfermodus duldungsstarr zu halten.
Eine Funktion von Minderheiten besteht in der Bestätigung mehrheitsgesellschaftlicher Grandiosität. Das funktioniert mit heraushebenden Zuschreibungen genauso wie mit herabsetzenden. Gegen Muslime rüstet man zurzeit mit dem Schlagwort von der jüdisch-christlichen Kultur auf. Jüdisch steht da noch nicht lange. Vorher war das christliche Abendland in Gefahr. Czollek: In Deutschland gab es nie etwas anderes, als eine Kultur der Aneignung jüdischer Traditionen durch eine christliche Mehrheit.
Die Walter Benjamin Generation mit ihren säkularisierten Über- und Gründervätern, die vielleicht wirklich ein jüdisch-christliches Abendland vor Augen hatten, lösten bereits bei ihren Söhnen ein Unbehagen vor der Assimilation aus.
Czollek: Der alte Judenhass wird im plötzlich „jüdisch-christlichen Abendland gegen den Islam in Stellung gebracht“. So wie man Kultur sagt und Rasse meint, so sagt man Muslime, meint aber alle ethnisch Differenten. Wer Muslime ausschließt, läuft sich für den Ausschluss der Juden schon einmal warm.
P.S.
Czollek spricht den Feind direkt an. Seine Freund*innen aka Kompliz*innen sind queer und muslimisch oder sonst wie minor. Sie können meine Kompliz*innen angreifen, sagt Czollek, aber rechnen Sie damit, dass wir uns wehren. Einige Kompliz*innen ergänzen Czolleks Vortrag mit korrespondierenden Texten und solchen, die „Desintegriert euch!“ einen Resonanzraum verschaffen.