Plötzlich ist kein Platz mehr im Bett. Man muss darauf achten, nicht über die Club-Kante und vor die Tür auf die Sachsenhäuser Klappergass‘ geschoben zu werden. Auf der Gasse ergießt sich die Frau Rauscher.
Die Fraa Rauscher aus de Klappergass (von Kurt Eugen Strouhs)
Am Sonndag warn mer dribb de Bach, was hammer do gelacht,
so warn zwaa Eheleut beschleucht unn hawe Krach gemacht.
Uff aamal duds en dumpfe Schlag, die Fraa lieht uff de Gass
unn alle Kinner singe laut, des mecht en Heidespass.
Orientalische Troubadoure spielen die Musik eines Wüstenvolkes. Angeblich stehen sie in einer Tradition vagabundierender Virtuosen, die einst Paläste abklapperten, so wie bei uns Minnesänger auf Burgen vorstellig wurden. Die „Uḍadē kārapēṭa“ ziehen mit zwei Tänzerinnen und einem Fakir umher. Der Fakir sieht aus wie ein bulgarischer Ringer im Ruhestand. Jederzeit könnte er auch den Mörder in einem Remake von Agatha Christies Orient Express spielen. Er schluckt Feuer, wälzt sich auf einem Scherbenbett bis zum blanken Grund und kratzt sich ausgiebig. Seine Fähigkeiten langweilen ihn offenbar. Vermutlich entstammt er einer Fakirfamilie und ist vom Vater zur Ausübung seines Berufs gezwungen worden. Er trägt weiter nichts als einen Schnauzbart und einen Lendenschurz. Ähnlich unverblümt bringen sich die Tänzerinnen ins Spiel, die Sache hat Methode.
Wahrscheinlich ist das „Bett“ deshalb so voll, denkt Tillmann. Neben ihm strahlt Marie pillenselig. Längst zählt sich die neununddreißigjährige Magdeburgerin selbst zum alten Eisen ihres Gothic-Chapters, von dem Tillmann nichts versteht. Für ihn verkörpert Marie die ostdeutsche Art, es krachen zu lassen mit Strumpfband und seitlichen Doppelschnallenverschlüssen am asymmetrisch geschnittenen Plisseerock aus einem schottischen Mystic Store.
Sie wiegt sich dekorativ zu einem antiken Trance Trip. Die Musik kommt Tillmann so vor, als unterhielten sich Grashüpfer. Das ausufernde Spiel der Tänzerinnen schwächt seine Reserve Marie gegenüber. Besitzergreifend dockt er an. Für Tillmann ist das schon, wie mit dem Hammer ausgeholt. Normalerweise ist er die Braut, die man zum Tanz auffordert. Das „Bett“ verliert gerade seinen Beatclubcharakter an Stimmungen wie in einem Animierschuppen. Im Trüben treiben Täuschungen auf, Halluzinationen, Simulationen, Narreteien. Tillmann denkt an den Regenbogen-Ragwurz. Die Lippe der Ophrys iricolor ist so gefärbt, dass man ein Insekt mit schimmernden Flügeln zu erkennen glaubt. Dem Irrtum erliegt nicht nur das menschliche Auge. Auch Bienen fallen herein. Die Rede ist von „Pseudokopulationen“ mit fruchtbarem Effekt. Die Orchidee erhält sich so. Joris-Karl Huysmans nahm den Vorgang zum Beispiel für „Pflanzenintelligenz“. Marcel Proust verstand „die von sämtlichen Tollheiten der Vegetation“ hochgejubelte „Königin des Treibhauses“ als Parodistin der Dingwelt. In seinem Paris war sie eine Exilantin, die mit dem „falschen Äquator der Ofenheizung“ vorliebnehmen musste.
Das interessiert Marie nicht. Sie kombiniert Yoga mit Gewichtheben.
Für Marie lebt Tillmann in einem Aquarium. Die Wirklichkeit bleibt außen vor.
Die „Uḍadē kārapēṭa“ stammen aus „Dynastien“, angeblich ist ihre Heimat ein Schmelztiegel hinduistischer und islamischer Kultur. Das behauptet einer neben Marie. „Love music, hate fashion“ steht auf seinem Hemd. Ein Aussagefossil. Der Typ ist schon ziemlich hacke, aber Experte. Er behauptet, genauso wie der Fakir, barfuß und unblutig auf Scherben laufen zu können.
Hat er das geübt?
Tillmann fragt ihn das lieber nicht. Wieder einmal wundert es ihn, dass er so oft Experten begegnet, die blau sind. Er sieht Marie an, dass der Experte ihr egal ist.
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Marie will die Vorhänge nicht zugezogen, sie findet es schön, sich vorzustellen, dass einer zuguckt. Egal wer. In ihrer Phantasie läuft immer eine Kamera und begleitet sie sogar aufs Klo. Ist das schon Exhibitionismus oder nicht noch gesunde Eigenliebe?
Tillmann vertieft lieber nichts. Nichts wissen will er vom Kniest, der sich überall einlagert und festsetzt. Zum Glück konnte sich Marie davon abhalten, einen Highlander-Stunt beim letzten Urlaub in Schottland mit einer Tätowierung zu krönen.
Tillmann registriert Maries Vorbehalte gegen sein Etepetete-Leben. Sie findet ihn zimperlich, er sie banal. Im nächsten Augenblick sitzen sie zu dritt auf dem Balkon, und Karolin zieht über Gero her, der vor zwanzig Jahren im „Yachthafen“ (am Schwedler See) schon vor der Eröffnung Lokalverbot bekommen hatte. Auf ihrem T-Shirt steht „Oktoberfest“. Jemand sagt was über Kalksandstein aus Mörfelden, das bringt Tillmann darauf, dass Uli Stein in Mörfelden einen Blumenladen hatte, zu der Zeit als er Eintracht-Torwart war und einen rosa Porsche fuhr. Tillmann fallen Nachmittage zufriedener Freundschaft auf einem Campingplatz an der Grenze zu Offenbach ein.
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Im Alten Schlagbaum treffen Karolin und Tillmann Karolins ersten Liebhaber. Der Lehrer markiert den verhinderten Jakobiner, gallig von Natur, bitter aus Erfahrung. Er nimmt sich die Zeit, um ein Wort aus dem Sprachfluss zu fischen, das am besten passt für den wichtigsten Unterschied zwischen einem Strand, den alle kennen, und seinem Strand, an dem er glücklich war als Student der Universidade Federal Fluminense. Von der Roten Armee Fraktion erzählt er, als sei er dabei gewesen.
„Der Baader war schon lange zur Fahndung ausgeschrieben, da hat der seinen geklauten De Tomaso Ponthera (hellblau metallic) vor Molly´s Pinte auf dem Bürgersteig geparkt, und die Bullerei fuhr einfach vorbei.“