„Die DDR ist meine Erfahrung, die kann nur ich beschreiben.“
Auf das „nur“ kommt es an. Heiner Müller trifft die Feststellung 1961 - zu einem Zeitpunkt, als er mit Verhaftung rechnen muss. Eine Inszenierung der „Umsiedlerin“ an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst, Manfred Krug sitzt im Publikum, der Sonntag, heute „Freitag“, brachte vorab einen Auszug, wird als zersetzend wahrgenommen. Der Zentralrat will den Dramatiker und seinen Regisseur B.K. Tragelehn im Gefängnis sehen. Der Amtsweg verlangt eine Absprache mit der Berliner SED-Bezirksleitung. Deren 1. Sekretär, Paul Verner, beruft sich auf eine Chruschtschow-Direktive des XX. Parteitag der KPdSU aus dem Jahr 1956: „Für Ideologie wird nicht mehr verhaftet.“
Der Staatsrat lenkt ein, allerdings erwartet man von Müller Selbstkritik. Er kommt der Forderung in der Gewissheit nach, „größer als die DDR“ zu sein. Er stellt diese Größe nicht dispositiv in den Raum, sondern als Tatsache. Müller begrüßt den Bau der Mauer „als freudiges Ereignis“. Die Mauer sei eine Chance, „freier zu arbeiten. Jetzt können wir offen und hart diskutieren.“
Die Wälder sind gebaut / aus Schweigen und Geäst (Aus „Kleines Kirchenlied“)
In diesem Hoffnungsüberschuss zirkuliert die frühe Lyrik. Die hingeworfene Bemerkung am Rand einer Hotelrechnung oder auf einer Kneipenblockseite mit der Zeche im Zentrum kann eine Zeile sein, die einem Gedicht gehört, das nach zig verworfenen Anläufen schließlich doch noch seine Form gefunden hat. Die Nachwelt als Kronzeuge der Bedeutung ist weit weg.
Das wird variiert: „In fünfzig Jahren ist nicht wichtig, wo ich mich wie ein Schwein verhalten habe, sondern wo ich wie ein Schwein geschrieben habe.“
Ich finde die Formulierung zum Beispiel in der Nähe einer Bemerkung zu seiner Frau Inge: „Ihr Leben war ein heroischer Kampf gegen den Wunsch, sich zu töten.“
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Und dann sagt Müller, mit zehn habe ich angefangen zu schreiben. Das Theater war erst einmal eine große Enttäuschung, es fehlte ein Pferd auf der Bühne, schließlich sei Wilhelm Tell gegeben worden von dieser Wandergruppe in Waren an der Müritz. Dann war ich mit meiner Halbschwester in Chemnitz. Müller sagt Chemnitz.
„Du Heiner, wie hast du eigentlich zur Dramatik gefunden?“
Das war so, dass mein Vater eine Casanova-Prachtausgabe in der uneinsichtigen Ecke seines Bücherschrankes aufbewahrte, und immer, wenn die Eltern nicht da waren, dann habe ich Casanova studiert. Mein Vater ist darauf gekommen und fand das verfrüht. Er hat an die Stelle von dem Casanova, das war so eine schreckliche Schmuckausgabe mit schwülen Stichen, weißt du, Müller räuspert sich und zieht enorm viel Rauch in den Körper, also hat mein Vater da seinen Hebbel, Schiller und Körner hingetan. So kam ich zur Dramatik. Immer wenn ich Casanova lesen wollte, ist mir Schiller in die Hände gefallen.
Müller schreibt um ein Leben und bringt sich dabei um die Existenz. Das ist ein Rausch im Bodenlosen.