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2022-04-19 07:14:00, Jamal Tuschick

Das Ende naht in jedem Augenblick. Ein „wütendes Stück Natur (in der Preisklasse) eines Wolfsrudels (oder eines) Schneesturms“ kann den Steinzeitjäger aus dem Rennen nehmen. Dessen Kompetenz kulminiert in zwei Fähigkeiten: der Vorausschau und der Ausdauer. Alexander Kluge unterstellt dem Versprengten eine stumme Grammatik. Der Möglichkeitssinn kollidiert mit der Wunschform und einem Hungerbegriff von Zukunft. Konjunktiv und Optativ zucken im Brustkorb. Noch liegen die Wörter nicht auf der Zunge, sondern halten sich im „Atem“ verborgen.

Alexander Kluge, „Zirkus / Kommentar“, mit vielen farbigen Abbildungen, Suhrkamp, 28,-

Kluge lokalisiert die Sprache in der Muskulatur als Aspekt eines umfassenden Ausdrucks. Das Leben unseres Ahnen gewinnt seine innere Gestalt im Lauf. Er läuft seit Tagen.

„Das verletzte Tier in der Herde, das später zurückblieb, hat er sofort erblickt.“

In einem - die Person förmlich zentrierenden - sakralen Akt der Verfolgung, den wir Heutigen mit sportlichen Extremleistungen verbinden, der zunächst aber nichts weiter als Arbeit ist, erwartet der Läufer die tödliche Erschöpfung seiner Beute. Er weidet, so Kluge, dann beinah schon einen Kadaver aus. Er schnallt sich transportable Teile an den Leib und läuft zurück zu jenen, die seiner Fürsorge unterworfen sind.

Aus der Ankündigung

Seit frühester Kindheit ist der Zirkus für Alexander Kluge ein Faszinosum und ein Phänomen seiner Zuwendung, die sich über sein filmisches Werk (Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos) bis in die jüngsten seiner literarischen Arbeiten erhalten hat. In ihm findet er das »Schattenbild der Arbeit« und zugleich das Inbild menschlicher Spitzenleistung von Liebe über Krieg bis zur Revolution. Denn die im Zirkus vorgeführten Leistungen sind Projektionsflächen von Utopien, bieten ein fassliches Bild für Entwicklungen der Zivilisation mit ihren fast unendlichen Möglichkeiten und zwischenzeitlich unvermeidlichen Abstürzen – gleich ob der Beifall aufrauscht oder die Artisten auf dem Boden der Manege ihre Glieder zählen.

In Wortfeldern, Bildern und Filmsequenzen (QR-Codes) öffnet sich auf 200 Seiten ein breites Panorama, in dem sich ratlose Artisten und hochdiffizil operierende Chirurgen ebenso tummeln wie die Kampfpiloten im Zirkus der Lüfte, allmachtstrunkene Sansculotten und nicht zuletzt: die Tiere, deren übermenschlichen Leistungen zwischen Dressur und Flucht dieses Buch ein bleibendes Denkmal setzt.

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