Der kaum zwanzigjährige Malte Herzog erscheint Jonna von Stellberg auf halber Höhe des Tillwitzer Hausbergs wie in einer Vision. In Jonna geht sofort etwas los. Sie lädt Malte in ihr Skipperhus ein und bewirtet ihn ausführlich. Doch nichts von dem, was Malte seiner Gastgeberin zeigt, erklärt Jonnas eruptive Reaktionen auf den Fremden.
„Die offene Küche ist das Zentrum eines modernen Wir.“ Aus der Werbung
2003 bestellte ich bei meinem ewigen Verehrer, dem Bauunternehmer und Bürgermeister Otfried Vrunt einen doppelten Durchbruch und besiegelte die Vereinigung von Küche und Wohnzimmer mit meiner Unterschrift. Der Vertragsabschluss mündete in einem vergnügten Nachmittag. Otfried bekräftigte sein Interesse an mir mit einem Geständnis, das ich leichten Herzens erwidern konnte. Ich wusste von meinem Führungsoffizier Geronimo Mansfeld, das Otfrieds IM-Vergangenheit von der Schweriner Nord-Stream-Gang als Gewähr dafür verstanden wird, dass er nicht von der Fahne geht und irgendwo auspackt.
Am Desaster vorbeigeschrammte Fachleute
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Otfried und ich sind Stasi-Krähen seit unserer Jugend. Nach Neunundachtzig half mir Otfried, mich in der neuen Zeit zurecht zu finden. Er führte mich in einen Kreis ein, der den Tillwitzer Landkreis mafiös bespielt. Gemeinsam stiegen wir in das Großvorhaben einer Umwandlung der Tillwitzer Seefahrtsschule in Eigentumswohnungen ein. Die erste Riege der DDR-Funktionselite kaufte sich ein und schuf eine ostdeutsche Entre-nous-Exklave, deren Exklusivität der freie Boddenblick bestätigt.
Die Großraumküche war mein erster gravierender Eingriff in die Ahnenordnung. Mit meiner ein Jahr zuvor gestorbenen Mutter wäre die Aufhebung der alten Aufteilung nicht zu machen gewesen, obwohl sich ihr tätiges häusliches Leben in der Küche abgespielt hat. Die überkommene Gliederung im Skipperhus achtete sie wie den Katechismus.
Auf den Kopf gestellte Ahnenordnung - Das Ende der Kombüsengemütlichkeit
Im Skipperhus gibt es nur noch das Miteinander mit mir selbst. Gäste bleiben, was sie sind. Sie vermissen die alte Kombüsengemütlichkeit nicht. Das gemauerte Ofenglück kennen sie nicht. Ich wünschte, Malte wäre weniger von sich eingenommen. Ich will gar nicht wissen, wo er sein Selbstbewusstsein hernimmt. Aus welchem Hohlblock der Anmaßung.
Malte bietet seine Hilfe an. Ich erlaube ihm, eine Zwiebel zu schneiden. Er wählt das richtige Messer und führt es geschickt.
Mit dem merkwürdigen Gefühl, eine Aufsicht führende Person zu sein, überlasse ich Malte auch das Abzupfen und Schälen der Zehen von ihrer Knolle. Dabei hatte ich nie die Aufsicht. Meine Rolle blieb stets, mich einer Aufsicht zu entziehen oder sie hinzunehmen. Manchmal denke ich, ich war so sehr das Kind meiner Eltern, dass ich nichts anderes mehr werden konnte. Wer auch immer das kapierte und manipulativ unterwegs war, hatte leichtes Spiel, so wie Ex-HVA-Major Mansfeld, der besser als jeder andere kapiert, wie man sich meiner am besten bedient.
Das Skipperhus als Belohnung für lauter Unterwerfungen. Heiner Schleef* hätte meiner Geschichte bestimmt einen Lauf in diese Richtung gegeben. Er liebte das Diabolische, starb aber auch nur, jämmerlich verröchelnd, den Lungenkrebstod des leidenschaftlichen Rauchers.
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*1986 - Ich bin Kostümbildnerin am Rostocker Alexandra Kollontai Theater. Die anderen haben ihre Auftritte auf der Bühne. Ich trete in der Kantine auf und fühle mich unendlich begehrenswert. Die Meute hört Hea hoa hea hoa hea hoa hea von Feeling B und Am Fenster von City. Bis eben überstiegen Soloempfindungen alles, was ich mit Männern erleben konnte. Doch seit unser Dramaturg Heiner Schleef sich heimlich mehr für mich als für meine beste Freundin Ingrid interessiert, peitscht mich die Erwartungsspannung aus meiner autoerotischen Genussecke in heikle Lagen. Ich spiele mich in Ingrids Liebesleben auf. Ich bin drauf und dran meiner besten Freundin den Feldstecher abzunehmen. Meine Skrupellosigkeit macht mich schwindlig.
Warum vergehe ich mich an Ingrid? Wieso schärft mich Heiner so fürchterlich? Wieso taugt die Binse kennst du einen, kennst du alle in seinem Fall nicht?
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Ich schenke mir und Malte Single Malt vom Schliersee ein. Der bayrische Whisky läuft wie flüssiges Gold zwischen den Glasrändern auf.
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„Nicht lang schnacken, Kopp in Nacken.“
Ich schmecke Vanille. Malte behält sein Geschmackserlebnis für sich. Er platziert sich an der Essbar, einem Trumm aus massiver Akazie. Ich fühle eine Schale mit rauchig gesalzenen Mandeln.
„Passt zum Whisky“, versuche ich es noch einmal.
Malte hebt die Schultern. Zu dem Mix aus Whisky, Salzmandeln und einem norddeutschen Trinkspruch gestattet ihm seine Distinktion keine Meinung. Kein Mensch wächst mehr mit den Binsen und Plattitüden auf, die mich erzogen haben.
Ich habe schon lange nicht mehr an meinem Highend-Küchentresen gegessen. Man stellt sich das in der Planungsphase so vor. Aber dann isst man doch wieder beim Netflixen in der Kuschelecke; die Füße in Mohair; Gogol und Gorki in Reichweite.
Meine Wohngenossen beobachten entspannt die ungewohnten Szenen in ihrem Territorium. Ich fülle die Näpfe der Verschworenen.
Gedächtnislose Gegenwart
Ein Display leuchtet auf. Kasper grüßt dezent aus der Ferne des nächsten Weilers. Mein persönlicher Westmann hat sich in Dyrborn eingekauft, so klischeehaft wie viele Boddenhof-Neueigentümer. Der Typus schwankt zwischen Überheblichkeit und Schleimerei. Die Eingeborenen sind für ihn, was Afrikanerinnen einst in Hagenbeckschen Völkerschauen waren. Die Perspektive ist imperial und kolonial. Trotzdem unterhält weit und breit nicht nur eine Kapitänsurenkelin ein Verhältnis zu einem dieser scheckbuchgepflegten Wellness-Fetischisten. Ich bedeute Kasper, dass mir jedwedes Entgegenkommen gerade nicht gelegen kommt. Er schreibt zurück: “One day you are the cock of the walk, the next a feather duster.”
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Ich schenke Malte und mir nach. Das zweite Glas bringt den Schwindel; Trüsel sagt man bei uns.
Keine Komplimente. Malte sagt auch nichts zu dem Barbaresco, den ich für ihn gelüftet habe.
Ich wähle die handbemalten Teller von Rosine Cresshoop. Im zweiten Glied des plattdeutschen Familiennamens steckt gleichermaßen Hoffnung und Haufen. In einem anderen Land waren Rosine und ich einmal dicke zu dritt mit Ingrid.
Ach, Rosine. Wie gern bewahre ich dir ein Andenken. Aufgewachsen im Auenviertel von Klotzberg. Die Bewohnerinnen der Trabantenstadt lebten auf einem höheren Niveau gleich als die in planmäßig vernachlässigter Backsteingotik Zurückgebliebenen. Die Platte versammelte alle Schichten und schuf so Kohäsion.
Die DDR setzte nicht auf den Erhalt von Bestand. Ihre Architekturpolitik besann sich nicht. Es gab keine Epochenrekurse. Vielmehr strebten die Planerinnen ein Bild von der Zukunft an, dass einer gedächtnislosen Gegenwart eingeprägt werden sollte. Sie träumten einen Ameisentraum. Ihr Konformismus-Phantasma wurde wahr. Der Konformismus ging so weit, dass die Generationskohorten im Gleichschritt den Alltag absolvierten. Die Leute gingen tagsüber ihren Erwerbstätigkeiten außerhalb der Siedlung nach, es kam zu einer gleichmäßen Entvölkerung - zu einer sozialen Ebbe. Nachmittags strömten alle zurück und fluteten die Kaufhalle, bevor sie die Familieneinheiten wiederherstellten.
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Malte isst, als säße er bei seiner Mutter am Küchentisch. Für ihn erschöpft sich die Angelegenheit in der kompromisslosen Aufnahme von Nahrung.
Warum kränkt es mich, so abgespeist zu werden? Was habe ich denn erwartet? Malte ist mir auf halber Höhe des Tillwitzer Hausbergs erschienen wie in einer Vision. In mir ging sofort etwas los. Doch nichts von dem, was Malte mir seitdem gezeigt hat, hilft mir, mich zu verstehen. Ich finde ihn oberflächlich, anmaßend und sogar abstoßend. Nach den alten Boddenbegriffen benimmt sich Malte wie die Axt im Walde. Er schenkt sich nach, fährt mit dem Ärmel über den Mund.
Ich räume ab. In diesem Haus gibt es für Malte keinen Nachtisch, keinen Espresso und keinen Digestif. Von mir aus kann er die Flasche leeren, bevor er endlich abhaut.