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2022-05-19 06:32:31, Jamal Tuschick

Heiner Müller sagt:

„Der Erfolg setzt ein, wenn die Wirkung vorbei ist.“

Ukrainische Impression aus dem Jahr 1920: „Und überall Felder, Sonne, Leichen.“ Issak Babel

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„Er hatte kein Recht, so gesund auszusehen.“ Joseph Conrad, „Lord Jim“

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„Man kann niemanden überholen, wenn man in seine Fußstapfen tritt.“ François Truffaut

Im 21. Juni 2014 betritt endlich auch Antigone von Pechstein die Bühne am Bodden. Bei ihrem ersten Auftritt begegnet sie dem Nord-Stream-Einpeitscher Geronimo Mansfeld. Natürlich ist das kein Zufall.

Verschleppte Begrüßung

Sämtliche Reaktionen des Körpers haben eine genetische Wurzel, die Milliarden Jahre zurückreicht. Sobald wir die thermoneutrale Zone verlassen, dreht sich alles nur noch um die Wiederherstellung der Homöostase. Interessant ist, dass die stärksten Ausschläge am unteren Ende der Temperaturskala stattfinden. Kälte ist der Schlüssel. Geronimo Mansfeld bringt seinen eigenen Polarkreis mit. Er ist siebenundfünfzig, ein alter Mann in Antigones Augen. Antigones Arroganz empfiehlt als Mittagsmenü für sechsvierzig, den Ex-HVA-Major für ausgebrannt und dämlich zu halten.

Gero verschleppt die Begrüßung. Erst mal irritieren. Antigone von Pechstein kennt das Programm, ihre Close-Range-Combat-Instruktorin gestattet den Elevinnen höchstens einmal im Jahr etwas Umgängliches auf der Basis von Normalfloskeln. Im Übrigen findet Puma Park (Hello again) kein Ende mit dem Irritationstraining. Der gegenstandslose Übergriff ist da kleines Tennis.

Wie fixiert man jemanden, ohne auch nur in seine Richtung zu gucken? Wie suggeriert man jemanden, man läge auf seinen Schultern und schände seine Intimzone, während man nachweislich die gesellschaftliche Distanz wahrt.

Antigone weiß, wie man das macht. In Pumas Orientierungslaufgruppe versteht sie am besten den Nutzen immaterieller Manipulationen.

Eine Gegnerin, die ihre Absichten verrät, ist keine, sagt Puma.

Antigone glaubt nicht, dass Gero auch nur den geringsten Unrat vor ihr verbergen kann.

Szenenwechsel - Grüne Apfelnote - Nord-Stream-Kampagnerin Sina Schleswig bei sich daheim. Sie hat sich vor ein paar Wochen von Jan-Freimut Krewehl getrennt. An Jan-Freimuts Stelle probt Ole Petermann, allseits bekannt als der gute Petermann, im Gegensatz zu seinem grottigen Cousin Olm Petermann.

Es bricht nicht aus ihr heraus. Nicht mal das. Sina fühlt sich abgespeist mit gehäckseltem Aldi-Eisbergsalat. Seit die Kenwood-Multifunktionsküchenmaschine angeblich von einem Laster fiel, flutscht alles durch das Ding. Dazu reicht Ole nostalgisch einen „typisch, nach Heu duftenden (Quelle)“ Saale-Unstrut-Silvaner in einem hochgejazzten Traktorschuppen, den die triste Verzweiflung der Vormieter zum Kummerkasten gemacht hat.

„So wurde die 1934 gegründete Winzervereinigung Freyburg … 1951 gezwungen, ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Sie musste sich in die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) eingliedern.“ Quelle

Auf einem engen Markt hat Ole einiges anzubieten. In seinen Augen ist Sina allenfalls einen Versuch wert. Mühelos entzieht sich Ole ihrer resignativen Turbulenz.

Jonna von Stellberg an ihrem Schreibtisch

Die Zeichen einer fremden Gesellschaft

1975 fährt Heiner Müller zum ersten Mal nach Amerika. In Texas beobachtet er Haltungen, die es in Deutschland seit 1945 nicht mehr gibt. Müller sagt, die Texaner wissen nicht, „was Faschismus ist, selbst wenn sie das machen“. Er bewegt sich unter ihnen wie der Weiße unter Wilden einerseits. Andererseits wähnt er sich in der Gegenwart von Marsmenschen, die bereits in einer konkreten Zukunft leben. Im Verlauf eines Dreivierteljahrs überschreitet er weit das Visum. Mit seiner Rückkehr rechnet kein Mensch mehr. Die Berliner-Ensemble-Gagen werden storniert. Müller kehrt dann aber doch zurück.

Er wendet seine Brecht Diagnose auf den (im Nachgang der Biermannausbürgerung) nach Westberlin umgesiedelten Thomas Brasch an. Müller sagt: Die Emigration trennt den Autor von seinem Material. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung erlischt.

„In Hollywood (wurde Brecht) …. auf die Fabel verwiesen.“

Das sei Schiller in Jena passiert. Das passiere Brasch in Westberlin.

Jonna von Stellberg betrachtet ein Foto, das Brasch und Bukowski zeigt. Braschs Mimik konserviert ein ungern preisgegebenes Erstaunen darüber, dass Bukowski sich offenbar ernst meint. Gemessen an den Ernsthaftigkeitsfestivals des Ostens kann Brasch Bukowski nur als Farce-Figur wahrnehmen. Das ist nun das, was er nach dem Landwechsel zur Verfügung hat, während Müller (solange er kann) im Material bleibt.

„Du kannst DDR zu mir sagen.“

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Brasch durchdringt den Stoff nicht mehr, weil er die Zeichen einer fremden Gesellschaft nicht lesen kann. Müller beansprucht die Quelle von Missverständnissen auch für sich. Dem Sinn nach: Dann bin ich zu einem Taxistand irgendwo in Amerika. Für den weißen Fahrer liegt mein Ziel zu nah. Er ruft einen Schwarzen und beauftragt ihn förmlich. Ich halte das ohne jeden Vergleich für typisch.

Mit solchen aus schwachen Erfahrungen destillierten Vermutungen lässt sich nicht solide wirtschaften. Deshalb geht Müller immer wieder mit dem erprobten Besteck an die Sache heran: Karl May, Faschismus, Bertolt Brecht. Fasst man das zusammen hat man die Träume verpasster Kolonialherrlichkeit in Kombination mit Flucht- und Elend. Man hat Goethe, den Kaiser, Hunger und Hitler. Daraus ergibt sich zum Beispiel der Holzschnitt:

Hollywood war Brechts Weimar. Die kalifornische Herausforderung bestand darin, dass sich Brechts Auseinandersetzung mit dem Faschismus nicht amerikanisieren (übersetzen) ließ. Der Dramatiker lag wie eine abgetakelte Fregatte im amerikanischen Trockendock. Brecht wäre ohne Hitler als potenten Feind zugrunde gegangen, jedenfalls nicht historisch geworden.

„Gegnerschaft war die Motivation für seine besten Arbeiten.“