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2022-05-24 07:22:16, Jamal Tuschick

In einem futuristischen Einst

„Die Besucher in Bayreuth sind schon durch die Höhe der Eintrittspreise zu jedem Gefühl bereit.“ Heiner Müller

*

„Lessing war der erste freie Schriftsteller … weil er Pech gehabt hat.“

Pech heißt: keine Anstellung. Heiner Müller fühlt mit Lessing, er nennt ihn ein „Vorbild“ und sich tapfer, indem er Lessing Mut zuspricht. Er hält die Zigarre zwischen sich und die Welt, er ist ein Echo der DDR. In einem futuristischen Einst wird das Beste an der DDR ein Heiner-Müller-Echo sein. Doch jetzt sind ihre Irrtümer seine Chancen.

Müller reagiert nonchalant auf die Geburtsfehler der sozialistischen Frühgeburt DDR. Er räkelt sich in seinem Material wie eine Diva. (Leben im Material: das ist die Verbindung einer Biografie mit der Geschichte eines Landes).

Man kann ihm die DDR schon deshalb nicht wegnehmen, weil sie ihm keiner abnehmen will. So wird die Diva zum Hahn auf dem Misthaufen DDR.

Im Schlussbild erscheint Müller im Kleid, rigoros rauchend.

Greisengeiz

Das Ziel der Erinnerungsarbeit ist meine Läuterung. Meine guten Absichten kann ich mit Hinweisen auf den Verbleib des Mannes beweisen, der Santiagos Vorgängerin umbringen ließ. In seiner Organisation spielt er die gleiche Rolle wie Santiago bei den Kreuzrittern des Einundzwanzigsten Jahrhunderts. Er hat viele Namen und ein hohes Alter. Ich machte für ihn Besorgungen auf allen Kontinenten.

Man roch die Macht am Kurier. Ich roch sie selbst und fühlte mich erhoben. Der Name meines Herrn garantierte Vorzüge, die einen Fürsten zufrieden gestellt hätten.

Ich fuhr einen schwarzen Ferrari.

Als junger Mann spielte der alte Mann Flöte, das habe ich, glaube ich, noch nicht erzählt. Die archaisch-mythische Schraffur eines Charakters lässt sich nicht wie eine Decke ausbreiten. Der alte Mann behauptet, dass man mit Gewalt immer zu weit geht. Sie zu befehlen, nennt er den schwersten Dienst an seiner Sache.

„Zu sterben ist für ihn leicht“, sage ich zu Miriam. Die irische Killerin im Innendienst-Ruhestand will, dass ich mich auf eine Weise erinnere, die mich durchlässig macht für alle Erfahrungen. Erfahrungen sind das Erz am Nugget der Erkenntnis.

Obwohl ich seit meiner Geburt in keinem Krankenhaus mehr war, kommt es mir so vor, als hätte ich mein Leben in Krankenhäusern verbracht.

Ich entgehe jedem Gedanken mit Bewegungen. Ich will mich leicht fühlen.

Man bringt Obstsalat als Zwischenmahlzeit. In meinen besten Zeiten hatte ich nur Champagner im Kühlschrank.

Ich gehe im Anzug zu Tisch. Miriam fragt: „Zweifelst du an der Liebe deiner Mutter zu dir?“

Die Möglichkeit, nie geliebt worden zu sein, öffnet den Raum für Spekulationen über die Wahrheit. Was bedeutet sie dann noch? Wenn man an keinen Menschen gebunden ist, sagt einem der Unterschied zwischen der Wahrheit und ihrem Gegenteil nicht viel. Dann kann man nur sich selbst anschmieren. Der Körper wird zur Arena, das Übrige zur Chimäre. Man könnte versucht sein, dem schönen Schein einer Idee zu erliegen, so wie der Idee, von einer idealen Familie oder einem gerechten Staat.

Es fällt mir schwer zu sagen: „Ich glaube, dass meine Mutter mich gebraucht hat, und dass wir beide das hoch veranschlagt haben. Man ist schon als Kind an dieser Art der Wertschöpfung beteiligt.“

Miriam fragt: „Bleibst du dabei, dass der alte Mann reinen Herzens handelt. Dass er mit seinen Gefolgsleuten stirbt und nicht vielmehr sie für ihn sterben, für seinen Greisengeiz?“

Miriam möchte, dass ich meinen Verrat bis in die Poren hinein als Wohltat erlebe. Meine Poren sollen sich dem Verrat öffnen.

*

Ich nehme eine Auszeit vor dem Fernseher. Ich darf alles sehen außer Nachrichten. Am Nachmittag bringt man mich in die vierzehnte Etage. Sie gleicht der zwölften.

„Liebe, Wahrheit, Verrat“, sagt Miriam, „waren für dich schon wichtige Wörter, bevor du bei dem alten Mann angelangtest. Aber, um dich ganz zu fühlen, mussten sie noch mehr Bedeutung bekommen. Du hattest deine Zweifel und du wolltest, dass sie jemand ausräumt.“

Ich glaubte unbefangen an die Liebe und zu Verrat sah ich mich außerstande. Nichts schien mir billiger als die Wahrheit.

Ich war jung. Der alte Mann war schon damals alt. Mit seinen Frauen, Kindern und Leibwächterinnen bevölkerte er eine Villa in Düsseldorf, erbaut nach den Vorstellungen eines Industriellen vor hundert Jahren.

Ich bin auf eine absurde Weise mit dem alten Mann verwandt … einer aus seinem Stamm und trotzdem seinen Verhältnissen vom ersten Tag meines Lebens an entfremdet von einer anderen Kultur.

Ich glich den Recken in Santiagos Gefolge, als ich zum alten Mann kam. Mir war bis dahin nicht viel gelungen, darüber wurde hinweggesehen.

In manchen Ländern bezeichnet man junge Männer als verrücktblütig. Mir gefielen die Gebärden der Gelassenheit, mit denen alle Vorfälle quittiert wurden, die ich gegen mich anführte, um meine Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Nach den Vorstellungen des alten Mannes kann man ein Leben nur im Dienst seiner Sache vollenden. Für ihn gibt es keine individuellen Lösungen, nur private Wege des Scheiterns. Sie zu beschreiten, bedeutet, von seiner Mutter umsonst in die Welt getragen worden zu sein. Das wiegt schwerer als Raub und Mord.

Ich hatte nichts Schwerwiegendes getan. Das stand mir bevor.

Ich stelle mir vor, wie Miriam Elektroden an meinem Körper anbringt.

„Der alte Mann wird dieses Land nicht verlassen“, sage ich, einer wiederkehrenden Eingebung gehorchend. „Er fühlt sich hier sicher und zugleich fühlt er hier seinen Mut.“ Ich stelle mir seinen Kopf im Maul eines ausgestopften Löwen vor.

Obwohl ich mich oft so geäußert habe, arbeitet Miriam mit mir daran, bis zu einer alpinen Stelle, an der ich den alten Mann als Greisin getarnt in einer Almhütte vermute. Hitler, Heidegger, Mengele: alle Assoziationen an der Peripherie sind negativ. Ich bin dabei, im Jagdverband der Kreuzritter aufzugehen.