Lale Jerome gefällt es, ihre Gäste zu verwirren. Sie kombiniert Erfolgreiche mit Unterversorgten. Es dauert eine Weile, bis die einen bemerken, dass die anderen als Terrordekoration gedacht sind, wie eine Ekelmenagerie im Schaufenster einer H-Society-Frisörin, die kognitive Dissonanzen erzeugen will. Spricht man sie darauf an, behauptet die Fachfrau plump: In Manila sei das gang und gäbe. Subtext: Der neue Schick ist schon auf dem Weg nach Europa. Ich bin bloß einmal wieder die Erste.
Ein Harem aus Zurückgesetzten, bei dem eine Maulheldin aus der IT-Branche Chefhenne im Korb ist. Dafür muss sie sich alles anhören. Diese Männer werden niemals aufhören, beleidigt zu sein.
Lale zählt zu den Springerinnen auf den Klippen der avancierten Gegenwart. Sie misst dem permanenten Jetzt den Puls zu jeder vollen Stunde. Sie ist eine Botin der Zukunft. Mit Erwägungen hält sie sich nicht auf. Der Körper denkt an seine Bedürfnisse. Das muss reichen. Das reicht.
„Dann riss ihm der Kackfaden für immer“, sagt ein technischer Betriebsleiter über einen Kollegen. Er nennt Olschinenski eine Vereinfachung seines Namens. Gebürtig ist er aus Obertshausen. Vor Frankfurt wird dort gewarnt, das nahm sich Olschinenski zu Herzen. Er bildet sich etwas auf seinen Musikgeschmack ein. In seinem Mazda fährt ein Kindersitz mit, für die Enkelin.
Das Kind sei noch „in der Planung“. Der Sitz soll „die Planung beschleunigen“. Südhessisches Voodoo.
„Wäre ich der Mann meiner Tochter“, sagt Olschinenski, „würde das Küken schon krähen.“
Olschinenski kann nicht zwei Sätze zusammenbringen, ohne von Kosten angefangen zu haben.
Für ihn ist das Leben eine Kostenfrage. Was geschieht, nutzt ihn ab.
*
Lale läuft. Ich folge ihr auf meinem alten Kurs. Seit zwanzig Jahren laufe ich die Strecke ab. In meiner Marathonzeit lief ich mich im Park warm. Heute reichen mir drei Runden. Zehn Minuten Gymnastik après und vier Mal dreißig Liegestütze und einmal fünfzehn Klimmzüge nach knapp zehn Kilometern in einem Viererschnitt, und ich fühle mich königlich. Für den Flow-Peak hätte ich vor zehn Jahren drei Stunden trainieren müssen.
Lales Hintern mobilisiert mich. Er richtet mich ein. Sämtliche Frequenzen sind im optimalen Bereich.
Lale dreht sich um, winkt mich heran, freut sich. Gemeinsam erleben wir einen paradiesischen Augenblick. In den Sinn kommt mir ein Satz von Sunzi: „Deine Pläne sollen dunkel und undurchdringlich sein wie die Nacht, und wenn du dich bewegst, dann stürze herab wie ein Blitzschlag.“
Ich weiß noch nicht lange, dass nicht nur Männer so ticken. Vier, fünf Mal hat es das gegeben. Bekanntensex im Trainingsrausch. Nie ergab sich daraus eine Belastung, nie eine Freundschaft. Manchmal kam es zu Wiederholungen, bis der Reiz in der Konkurrenz der Möglichkeiten überlagert wurde, und man lieber ein Kristallweizen im „Café läuft“ oder vor Khans Kiosk zischen wollte, als noch einmal mitzugehen, die Laufschuhe vor der Tür abstreifend. Die Schweißsockenabdrücke auf dem Korridorboden. Spuren aus der Steinzeit.
Der Blitzrausch verlängerte das Bewegungsglück. Die Erlebnisintensität ließ nichts zu wünschen übrig.
Lale drängt gegen mich.
„Ich kann Gedanken lesen“, sagt sie.
„Da bist du nicht die Einzige.“
„Ich spüre, wenn sich jemand an meine Fersen heftet. Ich habe dich fast eine Runde lang gezogen, ohne dass du es gemerkt hast.“
„Vielleicht doch“, sage ich vorsichtig. „Vielleicht habe ich es doch gemerkt. Jedenfalls sah es für mich so aus, als würde mich dein Hintern anlächeln.“
*
Annette war in Krakau bei einer Freundin aus ihrer Schulzeit, die mit dem Mann eine Familie gegründet hat, der vor fünfzehn Jahren ihr Freund geworden ist. Diese Beständigkeit ließ Annette wehmütig werden. Sie hat die Wehmut nach Frankfurt mitgebracht und so wie sie bei Eddie auf dem Sofa am Fenster sitzt und Sekt mit Aperol trinkt, wirkt sie ganz erschlagen von Verlustempfindungen.
Ich sitze neben Annette auf einem Brett über der Heizung (in der Havanna Bar an der Schwanenstraße). Der Nachthimmel stellt sich als Verlängerung des Kneipenhimmels dar. Die Bedienung räumt mit einer Kippe zwischen den Lippen ab. Nach einer Stunde Gymnastik ist der Star des Abends in der Lage, den emotionalen Haushalt des Publikums bis zum Deckenlicht aufzufüllen. Die Lieder werden ohne Ansage gebracht: als Essenz dessen, was im Verlauf von Jahrzehnten hingehauen hat. Lazy findet Annette die Leute an den Tischen ... „die sind alle so lazy.“
Zum ersten Mal ahne ich, dass Annettes erlesenheitssüchtige Art, mich über kurz anöden wird. Die Ahnung kriegt einen Turbo, da ich Lale einschweben sehe. Den Mann an ihrer Seite kennt man.
*
Ich treffe Lale an einem heimlichen Ort der Stadt: dem Schwedler See. Die Anlage am Ufer trägt noch die Handschrift der organisierten Arbeiterschaft einer vergangenen Epoche. Die hüttenartige Architektur wirkt zugleich karibisch und russisch also kubanisch.
Ein Gewitter kommt als Erleichterung. Es bringt einen Platzregen mit, der wie ein afrikanischer Niederschlag die Gegend flutet und die Gerüche des Lebens wieder wahrnehmbar macht.
„Was ist mit Annette?“
„Was soll sein?“
Lale zuckt für mich mit ihren Schultern.
„Du könntest dich ein bisschen mehr für meine Verhältnisse interessieren“ sagt sie ungnädig.
Ich will gar nicht wissen, was ihr nicht passt.