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2022-06-10 07:17:52, Jamal Tuschick

Biografisches Reizwort

„Spätheimkehrer“ - das sind in der fabelhaft modernen Gegenwart von 1972 jene Sportler:innen, die im Morgengrauen über den Zaun klettern, der das Olympische Dorf schutzverweigernd säumt. Für Edgar Berewski ist Spätheimkehrer ein biografisches Reizwort. Es lässt den verwitweten Anwalt mit schlesischem Migrationshintergrund aufhorchen.

„Geld ist Heimat“, verkündet Edgar bei jeder Gelegenheit. Für seine Eltern Linda und Jozef heißt die Heimat immer noch „Heemte“. Beim Googlen stieß ich auf den Schmachtfetzen „schlesisches Himmelreich“. Die Großeltern der Romanheldin Katja, genannt Tinka, fahren gern von München, wo sie sich nach dem Krieg aufgerappelt und eingerichtet haben, an den Tegernsee. Das Ausflugsziel war in der alten Heimat ihr Urlaubsziel.

„So einfach war es, so kompliziert.“

Ulrike Draesner, „Spiele“, Roman, Penguin Verlag, 489 Seiten, 14,-

Fabulöser Schaum

So schließt sich ein Kreis des Begreifens für Katja, die den Betrieb der Altvorderen gutwillig erforscht. Ihre Mutter Marlene starb, als sie fünf war. Katja hält sich an Jozef, der seit dem 1. Januar 1950 eine Zuckerstückchensammlung erweitert; untergebracht in einem „schwarz lackierten Medikamentenschrank“.

Die Exponate wecken Erinnerungen, aber keine schlimmen. Sie haben mit dem Krieg und der Vertreibung nichts zu tun.

„Wenn Jozef bei den Zuckerstücken saß, spürte er das (versehrte) Bein nicht.“

Er tauscht Würfel, deren Verpackungen mit 72er-Olympiamotiven bedruckt sind und folglich eine brandneue Kollektion (etwas noch nie Dagewesenes) verheißen, gegen Raritäten schlesischer Provenienz. Im Vergleich zu den aktuellen Portionsgrößen sind die urheimatlichen Exponate wahre Brocken. Sie erinnern Jozef an die (im Vergleich zu den Servicenormen im Münchner Augenblick) viel größeren Vorkriegskaffeetassen.

Die Autorin verwendet die liebevollste Sorgfalt auf solche Details. Sie laden zu einer Memorabilia-Polonaise durch die alte Bundesrepublik ein. Ich assoziiere narrative Sahneschnitten und fabulösen Schaum.

Avery Brundage’s “The Games must go on” fände heute bestimmt keine Zustimmung mehr

Jozef war geradezu verliebt in einen Freund seiner Enkelin. Max diente ihm als Schachgegner. Der Alte und der Junge erreichten gemeinsam Gipfel der Konzentration und der Versunkenheit. Im Jetzt der Ereignisse gehört die rührende Verbundenheit der Vergangenheit an.

Ich greife kurz vor.

„The Games must go on.“

Das postuliert der Präsident des Olympischen Komitees Avery Brundage am elften Wettkampftag gleichermaßen auf einer olympischen Empore und auf einem westdeutschen Tiefpunkt. Er äußert sich im Nachgang eines Staatsversagens.

Draesner nutzt die Erzählchancen des Desasters einer bizarr dilettantischen Befreiungsaktion, bei der auf der ganzen Linie sämtliche Ziele verfehlt werden. Die Autorin schickt einen Protagonisten ins Feld. Max ist (wahrscheinlich als Polizeioberwachtmeister) auf dem Frontfeld, als zwei BGS-Hubschrauber die Geiseln und die Geiselnehmer zum Flugplatz Fürstenfeldbruck transportieren. Da wartet eine Boeing 727 mit laufenden Triebwerken.

Während alles schief geht, wird Max angeschossen. Das wäre nicht passiert, wenn Katja nicht …

Genau datiert - Zurück auf Los

Die Geschichte beginnt als Rückblende nach einem Vorspann am Samstag, den 26. August. Deutschland sitzt vor der Glotze und verfolgt - im Gleichschritt des Interesses - die Eröffnungsfeierlichkeiten der XX. Olympischen Sommerspiele.

Heitere Spiele sollen es werden; ein Mustermann-Gegenstück zu den Spielen von 1936. Ein Hauch von Katharsis weht das sozialdemokratisierte Wir-sind-wieder-wer-Auditorium an. Das Defilee der Delegationen beobachten achtzigtausend Zuschauer:innen im Stadium. Zum ersten Mal spricht eine Frau den Olympischen Eid. Die zweiundzwanzigjährige Leichtathletin Heidi Schüller wird dann im Weitsprung unter anderem Heide Rosendahl unterliegen.

*

Katja campiert im väterlichen Garten. Eines Morgens beobachtet sie ihren Vater (struppig im Schlafanzug) bei einer Abendbeschäftigung.

Der Mann guckt Nachrichten.

„Im Fernseher zoomte die Kamera auf ein vierstöckiges Gebäude. Betontröge wölbten sich an der Fassade.“

Das Bild hat sich dem kollektiven Gedächtnis meiner Generation eingebrannt. Es gehört in die Galerie der schwarzweiß-grauen Schnappschüsse der 1970er Jahre Terror-Ikonografie, die im Werk von Gerhard Richter ihre Metaebene zugewiesen bekam. Katja ordnet es sich als visuelle Marke eines Endpunkts zu.

„Später sollte Katja erzählen, dass sie an diesem Morgen sie selbst geworden war, die Kindheit zu Ende. Sie wusste, dass das eine Konstruktion war.“

„Die ARD-Uhr zeigte 9.03 Uhr“ am 5. September. Seit 4:10 Uhr halten sich acht palästinensische Terroristen im Olympiaquartier der israelischen Mannschaft auf. Die Geiselgangster waren vorher aus Versehen bei den Sportlern aus Hongkong. Sie sind schlecht vorbereitet.

(Ich sage das nur, um dem Versagen der Behörden keine Deckung zu geben.)

Sie präsentieren sich als Kombattanten des Schwarzen Septembers. Freipressen wollen sie 232 palästinensische Gefangene. Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Kōzō Okamoto stehen außerdem auf ihrer Liste. Im ersten Anlauf werden sie zu Mördern von Josef Romano und Moshe Weinberg. Der gebürtige Libyer Romano verblutet vor den Augen seiner Freunde, während Willi Daume noch hofft, so schreibt Draesner, „die Geiselnahme … der Weltöffentlichkeit ganz verschweigen zu können“.

„Gedächtnis ist nicht ein Instrument zur Vergangenheitsdurchdringung, sondern selbst der Schauplatz der Vergangenheit.“

Katja notiert den Satz, ohne Angabe der Quelle. Sie trichtert die Ereignisse rund um das Fiasko von Fürstenfeldbruck, bei dem neun weitere israelische Athleten ermordet wurden, auf den an Ort und Stelle niedergestreckten Max zu.

Aus der Ankündigung

Wie hängt die private Geschichte mit dem Lauf der Welt zusammen?

1972 wurde mit der Geiselnahme der israelischen Sportler die demonstrative Weltoffenheit der olympischen Sommerspiele aufs Brutalste torpediert. 1972 war aber auch das Jahr, in dem Katja erwachsen wurde und ihre erste Liebe sie verriet und von ihr verraten wurde. 20 Jahre später beginnt für Katja eine immer dringlicher werdende Suche nach dem, was damals wirklich geschah. Und es zeigt sich, wie sehr die private Geschichte mit der großen, politischen zusammenhängt.

»Draesners ›Spiele‹ ist eine imponierend souverän gelegte Roman-Patience.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

Zur Autorin

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane und Gedichte vielfach ausgezeichnet, zuletzt unter anderem mit dem Preis der LiteraTour Nord, dem Deutschen Preis für Nature Writing und dem Bayerischen Buchpreis. Von 2015 bis 2017 lebte sie an der Universität Oxford, seit April 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Dort und in Berlin lebt und schreibt sie – neben Romanen und Gedichten auch Erzählungen und Essays. 2021 wurde Draesner für ihr Werk mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet.