Der Körper als Kampfstätte und Exerzierplatz. Die jungen Pioniere des „Hoffnungsprojekts DDR (sind) Hitlers Kinder“. Zu der nationalsozialistischen Abrichtung und gruppenförmigen Ausrichtung kommt der Bankrott einer verworfenen, sozial gestorbenen Eltern- und Lehrergeneration. In den Trichter der ungeheuren Empfänglichkeit des jugendlichen Idealismus ergießen sich die Parolen des Neuen Deutschlands.
Wer, wenn nicht wir?
„Eingenäht ins Amnesieprogramm des ostdeutschen Neustarts“ würzt der Geschmack von Unbedingtheit das „Kollektivmanna“ der Debütant:innen.
Steinzeitliche Rituale und Raumfahrtrekorde
1978 avanciert Sigmund Jähn als Premiumrepräsentant der skizzierten Generation zum ersten Deutschen im All. Er entzündet die Fackel des „großen Leuchtfeuers“ der ostdeutschen Weltraumforschung. Die Choreografie des „Propagandacoups“ folgt Politbürobeschlüssen und geheimdienstlichen Überprüfungen.
Die „Sicherheitskonzeption trägt den Kodenamen „Falke“.
Ines Geipel, „Schöner neuer Himmel. Aus dem Militärlabor des Ostens“, Klett-Cotta, 22,-
Der kosmische DDR-Triumph versetzt die Republik in einen Ausnahmezustand. Das Staatsvolk jubelt wie ein Mann. Honecker überreicht Jähn eine Flinte.
Der Staatsratsvorsitzende verehrt Jähn ein Jagdgewehr mit Silbergravur und Widmung. Die archaische Geste bleibt vorderhand umgebungslos.
Doch ist nicht auch Jähn zu einer Jagd aufgebrochen? Im Nachgang des Raumflugs plagen ihn „Illusionen des Raumes“. Seine körperliche Verfassung, eine rasend vorangeschrittene Entkräftigung, erhöhen die Erwartungen, die Wissenschaftler:innen mit anabolen Steroiden verknüpfen.
Leistungssteigernde Mittel setzt die DDR im Sport systematisch ein. In der Retrospektive erscheinen die Athlet:innen plötzlich als unfreiwillige Proband:innen der Raumfahrtforschung. Entmündigung, Missachtung der Integrität und Missbrauch liegen auf einer Linie der Verfehlungen, die bis heute Streitpunkte liefern.
Der Vater war eine HVA-Leuchte, Kundschafter des Friedens, „Westagent mit acht verschiedenen Identitäten“; ein Mann des Militärisch-Industriellen Komplexes (MIK). Daran denkt die Autorin, während eine anonyme Drohung mit dem Absender unknownsoldier@ ihre Nervenstränge vibrieren lässt. Die Angst assoziiert sich mit den „Nebelbildern von Gerhard Richter“. Ines Geipel variiert und ergänzt Richters Nebelbilder mit „dunklen Nachbildern“.
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„Nach dem Timbre und der Lautstärke … lässt sich der emotionale Zustand des Menschen beurteilen.“ Zitiert nach Ines Geipel
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„Der Mensch ist nach wie vor das … biegsamste … Glied in einem Steuersystem.“ Hans Haase
Der „im Sessel erstarrte Großvater“ versteinerte zum Denkmal des Verschweigens. Auf ihm lastete eine von der Enkelin erforschte Schuld.
Seit Jahrzehnten betreibt Geipel Familiengeschichte als Gesellschaftslehre. Der Vater genoss eine Terroragentenausbildung (HVA-Jargon). Er lebte im Rausch großer Feindfahrten. 1984 war die Party vorbei. Der Abgetakelte wurde demobilisiert und wirkte weiterhin als Direktor des Dresdner Pionierpalastes Schloss Albrechtsberg.
Zwei Zahlen
Über neunzigtausend Bürger:innen dienten der Stasi hauptberuflich.
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„Anfangs waren achtzig Prozent der Lehrer (in der sowjetisch besetzten Zone) ehemalige NSDAP-Mitglieder, außerdem fünfundvierzig Prozent der Ärzte und rund drei Viertel der Hochschulmediziner.“
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Geipel exponiert die Kontinuität der Karrieren in sehr verschiedenen Systemen. Der Großvater war NS-Funktionär, der Vater der Treuesten einer in der DDR. Die Autorin denkt an den Terroragenten, während eine anonyme Drohung mit dem Absender unknownsoldier@ ihre Nervenstränge vibrieren lässt. Die Angst assoziiert sich mit den „Nebelbildern von Gerhard Richter“. Ines Geipel variiert und ergänzt Richters Nebelbilder mit „dunklen Nachbildern“.
Sie fragt Leute, „die sich … auskennen“, nach dem Ursprung einer Konspiration, die sich am ehesten als Relikt des Kalten Krieges verstehen lässt. Die Konsultierten reden von einer „Restauration“. Sie schweigen sich aus.
Geipel fahndet nach dem Markenkern jenes aufgelassenen Staates, dem sie Traumen, Themen und Thesen verdankt. Hellhörig wird sie bei jeder Kombination von Militär und Forschung: dem Militärisch-Industriellen Komplex (MIK).
Die Autorin und ehemalige Spitzensportlerin sichtete geheime Dissertationen von DDR-Militärwissenschaftler:innen, um zu entdecken, dass sie als Probandin in Versuchsreihen ausgelesen worden war. Optimierer:innen des militärisch-industriellen-Ostblockkomplexes degradierten die Weltklasseathletin zu einem Wesen im Rang des „Bodenaffens“ aka „terrestrischen Beispiellebewesen“ Tevton.
Sie erkannte sich als Ziffernfolge in einer Zahlenkolonne wieder.
Tevton diente im Dezember 1983 als Synchrontier in einem Analogieverfahren, während die zu Kosmonauten aufgestiegenen Leidensgenossen Abrek und Bion in einem „Biosputnik“ gezwungenermaßen die Überlebenschancen irdischer Lebewesen im All ausloteten. Geipel schreibt: „Kapseltier Tevton, ein Bodenaffe unter brutalem Stress, mit gelöschtem Willen, der seine Mittel bekommt und daraufhin sein Programm abspult.“
Anthropologische Traumschleife
Im Zusammenhang mit Biosatellitenexperimenten taucht die erstaunliche Frage auf:
„Sind die subjektiven Erlebnisse der Kosmonauten real oder Illusionen?“
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In einem Freiburger Archiv absolviert Geipel eine Zeitreise. Sie folgt einer Aktenspur in die 1970er Jahre. Plateauschuhe. Biermannausbürgerung. Charta 77. Sigmund Jähn als erster Deutscher im All. Hundertfünfundzwanzig Mal umkreist Jähn 1978 die Erde; „der neue Mensch (Made in GDR/German Democratic Republic/Фарфор из ГДР) in einer anthropologischen Traumschleife“. In einer gigantischen transhumanistischen „Entlastungserzählung“ erreicht der neue Mensch interstellare Kolonien in Fahrstühlen.
„Unsterbliche sich selbst regulierende, künstliche Körper“ braucht es für den massenhaften Vorstoß ins All. So spukhaft-spekulativ sich das ausnimmt, es war stalinistische Staatsdoktrin. Sowjetische Forscher:innen „wollten afrikanische Frauen mit Schimpansensperma besamen“.
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„Die Betrachtung von Planeten, Kugelsternhaufen und größeren Nebelflecken in Teleskopen dieser Abmessungen ist einer der besten Wege, um dem Menschen die gewaltigen Maßstäbe des Kosmos näherzubringen und ihn innere Bescheidenheit zu lehren.“ Manfred von Ardenne, Quelle
Geipel verschränkt die post-stalinistische Biopolitik mit autobiografischen Marken, dem Elbflorentinischen High Society-Betrieb um Manfred von Ardenne und der Dresdner Sternwarte sowie dem Hype, der zumal von Georg Klaus beschworenen Kybernetik, die (nach einer Synchronisation mit dem Historischen Materialismus) dem DDR-Modernitätsphantasma inkorporiert wird, bis zur Ausmusterung um 1970.