“I’m from the south side of Chicago. That tells you as much about me as you need to know.” Michelle Obama
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„Ich war entschlossen, niemals meinen Frieden mit dem Ghetto zu machen, sondern lieber zur Hölle zu fahren, … als meinen Platz in diesem Staat zu akzeptieren.“ James Baldwin
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„Die Erfahrung des Schwarzen mit der weißen Welt kann in ihm keinen Respekt für die Normen wecken, nach denen die weiße Welt zu leben vorgibt.“ JB
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„Der Weißen Himmel ist der Schwarzen Hölle.“ JB
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Anlässlich des hundertsten Jahrestages der Sklavenbefreiung, der sich in einer Proklamation vom 1. Januar 1863 manifestiert, kontert Baldwin:
„Dieses Land feiert hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh.“
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„Dass die tiefste kulturelle Revolution durch den Einzug der Marginalisierten in die Repräsentation ausgelöst wurde - in der Kunst, der Malerei, der Literatur, überall in den modernen Künsten, in der Politik und im sozialen Leben im Allgemeinen. Unser Leben wurde durch den Kampf der Marginalisierten um Repräsentation verändert.“ Stuart Hall
Der Titel reagiert auf einen Titel. „Notes of a Native Son“ paraphrasiert „Native Son”. So heißt ein 1940 publizierter Roman von Richard Wright. Im Zentrum des Geschehens verelendet ein adoleszenter Verkehrsteilnehmer. Bigger Thomas handelt nach den Gesetzen des Ghettos. Schauplatz der Szenen seines Scheiterns ist die South Side von Chicago.
“I’m from the south side of Chicago. That tells you as much about me as you need to know.” Michelle Obama
Narrative Reichweite
Die Chicagoer Winter sind hart. Michelle Obama beschreibt den Himmel als eisengrauen Deckel, der über der Stadt zuklappt. Dann hat man hundert Tage Frostdepression am Stück.
“No American … exists”, schreibt James Baldwin (1924 - 1987), “who does not have his private Bigger Thomas living in his skull.” Baldwin hält Wrights Helden für misslungen. Bigger sei „keine Figur, sondern eine Parabel, … (die) blut- und bedeutungslos bleibt“ (Mithu M. Sanyal).
Baldwin erklärt Bigger zu „Onkel Toms Nachfahren“. Er sei Fleisch vom Fleisch der Demut, ein „exaktes Gegenstück“ zum Dulder Tom.
Baldwin schildert an vielen Stellen, wie er als Jugendlicher von außen „definiert, beschrieben und begrenzt“ wurde. Frantz Fanon analysiert die Erblast einer deklassierenden Fremdzuschreibung als Dauerfeuer 1952 in dem Essay L‘expérience vécue du noir. Sein Credo: Am Ende handelt der Erniedrigte. Der Druck, unter dem er steht, entlädt sich. „Pour mettre fin à sa tension, il agit, il répond à l’anticipation du monde.”
James Baldwin, „Von einem Sohn dieses Landes“, auf Deutsch von Miriam Mandelkow, mit einem Vorwort von Mithu M. Sanyal und einer Nachbemerkung von Miriam Mandelkow, dtv, 238 Seiten, 22,-
Progressive Periodika
„Größenwahnsinnig“ erscheint Mithu M. Sanyal der „Versuch, die Essenz … (der zehn) Essays zu erfassen“. Das erklärt die Autorin und Kulturwissenschaftlerin im Vorwort zur jüngsten Wiederauflage des 1955 erstmals veröffentlichten Bandes. Die ab 1948 entstandenen Aufsätze bereicherten zuerst progressive sowie, nach amerikanischen Margen antike Periodika im Spektrum zwischen Partisan Review und Harper’s Magazine. Ihre Editionshistorie begleitete ein Widerstreben des Autors, der sich „nie als Essayist betrachtet(e)“.
Den Herrschenden unterstellte Baldwin eine „uneingestandene Panik“, da sie in die narrative Reichweite der Unterdrückten geraten sind. Er bestätigt ein Verdikt von Stuart Hall:
„Dass die tiefste kulturelle Revolution durch den Einzug der Marginalisierten in die Repräsentation ausgelöst wurde - in der Kunst, der Malerei, der Literatur, überall in den modernen Künsten, in der Politik und im sozialen Leben im Allgemeinen. Unser Leben wurde durch den Kampf der Marginalisierten um Repräsentation verändert.“
„Kein sentimentaler Eskapismus“
Während Hannah Arendt glaubte, „Liebe könne nicht politisch sein, weil sie Pluralität negiert“, erkannte Baldwin in der Pluralität die Voraussetzung der Liebe. „Allerdings Liebe nicht als sentimentaler Eskapismus.“
Das erklärt Mithu M. Sanyal.
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Baldwin traf in der Hochzeit der Bürgerrechtsbewegung, die von einem institutionalisierten und gleichzeitig tief empfundenen, aus einer Riesenangst geborenen Rassismus gekontert wurde, mehr als einen Nerv. In Baldwins Mensch in der Revolte, um einen Titel von Camus anzubringen, begegnen sich die Positionen von Malcolm X und Martin Luther King wie in einem Kampf, den Muhammad Ali in der Verfassung des Goldmedaillengewinners von Rom mit sich selbst bestreitet.
Bessie Smith gab Baldwin den Beat ein. Dies geschah weit weg von den Schauplätzen der US-Segregation in der Schweiz. Europa begriff Baldwin als „Gottes Festung“ und Hochburg der Barbarei. Doch widerfuhr ihm da etwas Wunderbares. Auf der Suche nach einem Englisch eigener Provenienz, einer vom weißen Herrschaftstext nicht restlos durchdrungenen und verseuchten Sprache, einer emanzipatorischen Sperre vor dem geschundenen Selbst, einem Refugium von Widerständigkeit und Spiritualität, einem Schwarzen Hafen jenseits der Kontinente Henry James, Walt Whitman und William Shakespeare, gelangte James Baldwin zu den Quellen des Blues in einer Vorhölle des Gospels: den Spirituals. Kurioserweise gelangte er dahin in Leukerbad im Wallis.
Baldwin hatte wenig mehr im Gepäck als eine Schreibmaschine und zwei Bessie-Smith-Platten. Aus seinen Beobachtungen vierzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel in einem auf Fremde, nicht jedoch auf Schwarze Fremde eingestellten Dorf, zog Baldwin weitreichende Schlüsse. In den staunenden Europäer:innen erkannte er den Urgrund der amerikanischen Verachtung. Er begriff, dass es möglich war - dass es im XX. Jahrhundert möglich war - dass es nach dem Schwarzen Blutzoll in zwei Weltkriegen möglich war, Schwarze nicht als Menschen zu begreifen. Irgendwo erzählt Baldwin, wie Schwarze Soldaten nicht umhin kommen zu bemerken, dass ihre selbstverständlich weißen Vorgesetzten deutsche Kriegsgefangene besser behandeln als die Schwarzen Waffenbrüder. Das alles und noch viel mehr veranlasste Baldwin, eine weiße Unschuld anzunehmen. In diesem Kontext sind Weiße außerstande, sich selbst zu reflektieren. Deshalb können sie nicht erwachsen werden.
„Schwarze Amerikaner haben den großen Vorteil, nie an die gesammelten Mythen geglaubt zu haben, an die sich weiße Amerikaner klammern.“
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Baldwin beginnt mit „Autobiografischen Anmerkungen“. Er konterkariert den Titel mit einer Altersangabe. Er ist einunddreißig. Seine Rückschau vibriert wie ein startendes Flugzeug dem Kommenden entgegen. Er war der Hüter seiner Geschwister in einer Ghettokindheit mit beinah allen Zutaten, die Harlem in den Roaring Twenties zu bieten hatte.
„Damals hatte meine Mutter die leidige und mysteriöse Angewohnheit, Kinder zu kriegen. Waren sie geboren, übernahm ich sie mit einer Hand, und in der anderen hielt ich ein Buch.“
Der Debütant las alles außer der Bibel, da man sie ihm nahelegte. Romane entwarf er wie am Fließband. Seine Publikationsstrecke eröffnete er mit zwölf. Baldwin klapperte die klassischen Stadien ab. Mit zwanzig kellnerte er im Village und schrieb Rezensionen. Man buchte ihn als Experten für das N… problem, bis er es leid war, die New Yorker Klischees seines Genres zu reproduzieren.
Schließlich begriff Baldwin: „Shakespeare, Bach, Rembrandt … das waren nicht wirklich meine Schöpfungen, sie bargen nicht meine Geschichte; in ihnen könnte ich auf ewig nach einer Spiegelung meiner selbst suchen. Ich war ein Eindringling; dies war nicht mein Erbe.“
Bald mehr.
Aus der Ankündigung
„Die Welt ist nicht mehr weiß, und sie wird nie wieder weiß sein.“
Als wäre es eine Nachricht von heute: Nachdem ein weißer Polizist einen Schwarzen erschossen hat, kommt es in Harlem 1943 zu Ausschreitungen. Inmitten der Unruhen trägt der 19-jährige James Baldwin seinen Vater zu Grabe. Das Verhältnis der beiden war zerrüttet wie das Land, das Baldwin bald Richtung Frankreich verlassen wird. Erst aus der Distanz vermag er sich seinem Vater und seiner Heimat wieder anzunähern und sich den brennenden Fragen zu stellen: Was bedeutet es, Schwarz zu sein – in den USA und in Europa? Von weißen Präsidenten regiert, von weißen Medien informiert, von einer weißen Popkultur umgeben. In zehn Essays verbindet Baldwin Analyse und Argument mit intimen Einblicken in die Suche nach der eigenen Identität.
Zum Autor
James Baldwin (1924-1987), als Schriftsteller zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnet, gilt bis heute als Ikone der Gleichberechtigung aller Menschen, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Herkunftsmilieus.
Zur Übersetzerin
Miriam Mandelkow, 1963 in Amsterdam geboren, lebt in Hamburg. Für ihre Neuübersetzung von Baldwins ›Von dieser Welt‹ wurde sie mit dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis ausgezeichnet.