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2022-07-05 06:42:28, Jamal

Nach einem Streit verlässt der New Yorker Finanzhai Barry Cohen seine Frau Seema und den autistischen Sohn Shiva. Der Hedgefonds-Tycoon lässt seine Familie in sagenhaft luxuriösen Verhältnissen zurück. In einem Greyhoundbus reist Barry - offenbar vorsätzlich prekär - gen Süden. Ihm schwebt die Wiederaufnahme der Beziehung mit einer vor Jahrzehnten verflossenen Liebe vor, die in El Paso als alleinerziehende Mutter und Professorin lebt. Siehe auch hier

„Der Bug des Flatiron Buildings schwebt mehr als hundert Meter (unter ihrer Etage). Die verlassene Seema sieht prominent auch den Metropolitan Life Tower, im frühen XX. Jahrhundert kurz das höchste Gebäude der Welt, bis es vom Woolworth Building überholt wurde. Inzwischen nimmt es sich wie das Einfamilienhaus im Plattenbauensemble aus. Leser:innen meiner Besprechungen erinnern sich vielleicht daran, dass Julia Haart den Weg in die Selbständigkeit auf dem Umweg eines Jobs bei Metropolitan Life Insurance Company einschlug. Siehe. Forbes listet MetLife auf Platz 78 der größten börsennotierten Unternehmen. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit in Moskau und Austin öffneten sich für Julia im MetLife Tower die Schleusen zur nichtjüdischen Welt. Sie lernte Cold Calling - Kaltakquise, und war wieder einmal die Beste im Team.

Julia Haart, „Un-Verhüllt. Mein Weg von der ultraorthodoxen Jüdin zur erfolgreichen Modedesignerin“, die Autobiografie des Stars der Netflix-Serie „My Unorthodox Life“, auf Deutsch von Constanze Wehnes, Anja Schünemann, Knaur, 24,-

Benign neglect

Ein Abend, der alles verändert. Die Ärztin Julianna und der Autor Luis Goodman gehören zu den „mittleren Millionären“ und damit zu den armen Reichen in einem New Yorker Prachtblock nahe dem 1847 eröffneten, in den 1990er Jahren berüchtigten und nun wieder dem bürgerlichen Wohlergehen dienenden Madison Square Park an der 5th Avenue. Die (nicht praktizierende) Anwältin Seema und der Vorstandsvorsitzende Barry residieren achtzehn Stockwerke über den Goodmans unter dem Druck extremer Varianten.

Gary Shteyngart, „Willkommen in Lake Success“, Roman, auf Deutsch von Ingo Herzke, Penguin Verlag, 12,- 

Dem literarisch beschlagenen Uhrenfetischisten Barry erscheinen die äußeren Umstände der beinah auf der Straße lebenden Goodmans so, dass er zu Benign neglect raten würde. Man ist gewissermaßen lost zwischen echtem Reichtum und echtem Prekariat.

Im Haushimmel über den Cohens waltet Rupert Murdoch persönlich. Barrys soziale Lücke ist sein autistischer Sohn Shiva. Die Goodmans haben ein gesundes Kind. Das führen sie vor. Das Ehepaar Cohen eskaliert. Seema verschießt Spitzen gegen Barry und Julianna. Barry, der alte Aufsteiger aka „Sohn des Poolreinigers“, fährt mit dem Fahrstuhl direkt in seine Wohnung im zwanzigsten Stock und schnappt sich eine Flasche achtundvierzig Jahre alten Karuizawa Single Cask Whisky. Er will den Leuten mit dem gesunden Sohn heimleuchten, ihnen die Hausordnung erklären, sie herabsetzen und über den Teppich seines Geltungsbedürfnisses schleifen.  

Am vorläufigen Ende der Begegnung platzt er aus seiner Oberschichtshaut und lässt den Underdog von der Kette. Barry gerät in ein Handgemenge mit seiner Frau und einer Bediensteten. Er flieht über alle bürgerlichen Grenzen eines Familienstreits, um sich bald in einem Überlandbus wiederzufinden.

*

Seema weint dem Abtrünnigen der Wall Street keine Träne nach. Sie erschöpft sich in aufwändigen Prozeduren im Alltag mit Shiva. Wegen ihrer zweiten Schwangerschaft verzichtet die Tochter tamilischer Migrant:innen auf Amphetamingaben und Zigaretten. Sie gönnt sich lediglich kleine Realness-Dosen, wie sie in dem miesesten Café next door gratis angeboten werden. Dann gehen Shivas Therapien weiter; ein täglicher Parcours der komplex ausgesteuerten Anreize.

Shiva „hat vierzig Stunden Therapie in der Woche“.

Seema begegnet Luis auf der Straße. Er entführt sie in eine Bar mit dem ältesten Lastenaufzug der Stadt.

„In New York gibt es … (ca.) 84.000 Fahrstühle.“ Quelle

Luis gibt den bedenkenlosen Verführer. Er hält eine turbulente Gemengelage am Kochen. Ihn quält nichts. Der Leichtsinnige bestürmt die Superreiche. Er will ein Kind von Seema. Gleichzeitig baut Julianna ein Verhältnis zu Shiva auf, dass den Verschlossenen zu (nie zuvor beobachteten) Gesten der Kooperation animiert. Seema weiß nicht, wie sie das finden soll.

Während Seema ohne ihren Mann weiter das Leben einer Milliardärsgattin führt, trennt sich Barry von seinen Kreditkarten. Er steigt auf Billiglösungen um, landet in Absteigen und pumpt ehemalige Kollegen an. Das Desaster erlebt Barry als Abenteuer. Er will noch einmal durchstarten und den amerikanischen Traum zweimal träumen. Eine Nachmittagsgeliebte charakterisiert ihn in einer Notiz:

„Du bist so freundlich wie ein Kind.“

Barrys Schöpfer lässt offen, wie irrwitzig, erbärmlich und großartig er Barrys infantilen Utopismus findet. In manchen Momenten erscheint Shteyngarts Held, wenigstens mir, beinah luzide.

Aus der Ankündigung

Ein wahnwitziger Roadtrip durch das zerrissene Amerika Barry Cohen, Sohn eines jüdischen Poolreinigers aus der Bronx, lebt den amerikanischen Traum mit großem Haus und bildschöner Ehefrau. Doch dann kommt der Tag, an dem er begreift, dass sein Sohn niemals in seine Fußstapfen treten wird. Sein ganzer Lebensplan steht auf dem Kopf und gleichzeitig ist auch noch die Börsenaufsicht hinter ihm her. Ohne nachzudenken, flieht Barry in einem Greyhound-Bus aus New York – auf der Suche nach seiner Collegeliebe Layla, die er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Kann er nach so langer Zeit mit ihr das Leben von damals wieder aufnehmen?

Zum Autor

Gary Shteyngart wurde 1972 als Sohn jüdischer Eltern in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und kam im Alter von sieben Jahren in die USA. Er legte 2002 mit »Handbuch für den russischen Debütanten« seinen Erstling vor, ein New-York-Times-Bestseller, der u.a. mit dem National Jewish Book Award for Fiction geehrt wurde. Es folgten die vielfach ausgezeichneten Erfolgsromane »Absurdistan« und »Super Sad True Love Story« sowie zuletzt sein autobiografisches Buch »Kleiner Versager«. »Willkommen in Lake Success« ist der vierte Roman des New Yorker Kultautors, er wurde mehrfach zu einem der besten Bücher des Jahres 2018 gekürt und wird von HBO als Serie mit Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle verfilmt.