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2022-07-11 07:40:27, Jamal

Nationale Statusskala

„Ich hätte verletzt oder wütend gucken können, ich weiß, aber ich habe mich schon vor einer Weile für den Funktionsmodus munter entschieden, weil ich mich an etwas erinnerte, das Ruby in New York mal zu mir sagte:

„Reiche Leute sind von Glück fasziniert … Es macht sie rasend.“

Das memoriert Miho, eine Künstlerin mit selbstbewusst präsentiertem Parvenu-Portfolio. Als Stipendiatin kommt sie aus der koreanischen Provinz nach New York und genießt da die Gunst einer superreichen, heimlich unglücklichen, Maserati fahrenden Mäzenatin und Dynastin. Die Protegierte charakterisiert Ruby so:

„Ihr Blick (für Kunst) war kein Talent, eher ein Instinkt.“

Mihos Blick für die koreanische Hackordnung spiegelt die Perspektive ihrer Schöpferin.

„Bei jedem Kennenlernen (wirst du) … sofort mit Fragen bombardiert … (Die Leute) bestimmen (so) deine Position auf der nationalen Statusskala, und einen Herzschlag später spucken sie dich aus.“

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Toxischer Geltungsdrang

Wüßte Wonnas Gatte, weshalb er, ein Niemand in einer Welt des toxischen Geltungsdrangs und hemmungslosen Wettbewerbs, geheiratet wurde, die Information nähme ihm den kläglichen Rest seiner Selbstachtung.

Frances Cha, „Hätte ich dein Gesicht“, Roman, aus dem Englischen von Nicole Seifert, Unionsverlag, 286 Seiten, 23,-

„Wenn Sie mich fragen“, so formuliert es Wonna zwar abgeklärt, aber nicht sarkastisch, „warum ich meinen Mann geheiratet habe, würde ich sagen, weil seine Mutter tot war.“

Folgt man der Strategin, dann liegt „der Hass, den Schwiegermütter für ihre Schwiegertöchter empfinden, allen Frauen dieses Landes in den Genen“.   

Asiatischer Aberglaube

Wonna ignoriert ihren Mann nach Kräften. Ihm fehlt das Potential, um auch nur als Störung in Frage zu kommen. Stattdessen lebt die Versprengte in einer heimlichen und einseitigen Symbiose mit den Mieterinnen über ihr im obersten Stockwerk eines vierstöckigen Hauses.

Ein asiatischer Aberglaube, so sagt es die Autorin, gebe auch den Koreaner:innen eine Aversion gegen die Zahl vier ein. In höheren Häusern folgt der dritten die fünfte Etage. Die Augenwischerei lässt sich im konkreten Fall nicht bewerkstelligen. Deshalb zahlen die Bewohnerinnen der Dachgeschossapartments im Seouler Premiumbezirk Gangnam-gu, gemessen an den hauptstädtischen Margen, lächerlich geringe Mieten. Sie sind die Heldinnen in Frances Chas Debütroman „Wenn ich dein Gesicht hätte“.      

“A whole family of women who take the faces they were born with as a light suggestion.” Amy Schumer über die Frauen des Kardashian-Klans

Post-kolonial-bäurisch erschien die südkoreanische Gesellschaft noch vor vierzig Jahren. Dann wurde sie einer der vier kleinen Drachen, ein Tigerstaat wie Singapur, Taiwan und Hongkong. Dass Fortschritt und Demokratie mitunter getrennte Wege gehen, beweist auch die ungewisse Zukunft Taiwans und die traurige Gegenwart von Hongkong. Gleichzeitig verbindet die Aufsteiger eine explosive Dynamik. In dem zunächst rückständigsten Konkurrenten Korea erodiert die ursprüngliche Kultur zugunsten hybrider Formate.

Eine Hauptmarke des Wandels ist die Schönheitschirurgie und ein kollektiver Taumel zwischen Epigonentum und Ikonografie. Millionen fanatischer Nachahmerinnen reagieren auf handverlesene, grandios herausgeputzte Idole. Sie betreiben die kostspieligste Mimikry, um in einem gnadenlosen Ranking nicht bloß unter Fernerliefen im Spiel zu sein.

Der Perfektionswahn übt auf alle Druck aus. In Chas Roman versuchen vier Frauen auf der Feuerlinie des exzessivsten Wettbewerbs zu bestehen. Die bis zur makellosen Künstlichkeit operierte Kyuri, eben stieß ich auf die Formulierung „surgically-enhanced - chirurgisch-erweitert“, unterhält Geschäftsmänner in Room-Salons nach den Direktiven „optionaler Prostitution“ Quelle.

Die stumme Ara stammt aus Cheongju, arbeitet als Friseurin und verausgabt sich als K-Pop-Fan. Ihre Freundinnen nennen sie Ineogongju - kleine Meerjungfrau. Ara erinnert sich an Zeiten, als sie für eine Straßenkämpferin Zigaretten holte. Tief verbeugte sich Ara vor der Gefürchteten.

Wonna betreibt Cocooning. Zugleich stalkt sie ihre Nachbarinnen. Sie täuscht Indifferenz vor, während sie in Wahrheit ganz aus dem Häuschen ist vor lauter Anteilnahme an den Vorgängen im vierten Stock.

Die nun in Seoul kreative Miho studiert vor allem das klandestin-labyrinthische Dasein der Überprivilegierten. Ihre „fieberhafte Produktion“ erklärt sie mit einem Verrat an ihrer Gönnerin. Ruby brachte sich um. In der Seouler Romangegenwart ist Miho mit Rubys letztem Geliebten liiert, und fühlt sich deshalb von einer Wiedergängerin der Selbstmörderin verfolgt. Auch Hanbin, ein defensiver Beau, zählt zu jener, dem koreanischen Alltag entrückten, hauchdünnen Oberschicht, die nach eigenen Regeln spielt.    

Aus der Ankündigung

Schöner, reicher, mächtiger – nur wer perfekt ist, steigt auf im schillernden Seoul. Vier junge Frauen versuchen, in den gnadenlosen Hierarchien hinter Gangnams Hochglanzfassaden zu bestehen. Kyuri, mit ihrem makellosen Gesicht, unterhält Nacht für Nacht mächtige Geschäftsmänner in exklusiven Room-Salons. Miho, aufstrebende Künstlerin, findet sich unfreiwillig in der superreichen Elite wieder. Ara, stumm seit ihrer Jugend, flieht in den Schein der glitzernden K-Pop-Welt. Und Wonna, frisch verheiratet, sucht verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem vorgeformten Leben.

In bonbonfarbenen Schönheitskliniken und an den Marmortischen der High Society offenbaren sich die Abgründe einer Gesellschaft, in der Fehler nicht geduldet werden und Erfolg nur ein einziges Gesicht trägt.

Zur Autorin

Frances Cha, geboren in Saint Paul, Minnesota, ist Autorin und Journalistin. Sie verbrachte ihre Kindheit in Texas und Hongkong, im Alter von zwölf Jahren zog sie nach Korea. Sie studierte Englische Literatur und Kreatives Schreiben, anschließend war sie u. a. als Redakteurin für CNN International in Seoul und Hongkong tätig. Als Dozentin lehrte sie Medienwissenschaften und Kreatives Schreiben, u. a. an der Columbia University und der Seoul National University. Cha lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Brooklyn und Seoul.

Zur Übersetzerin

Nicole Seifert, geboren 1972, übersetzt aus dem Englischen. Sie studierte nach einer Ausbildung im S. Fischer Verlag Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und Amerikanistik in Berlin. Nach ihrer Promotion arbeitete sie zunächst als Lektorin, bevor sie ihren ersten Übersetzungsauftrag erhielt. Sie hat u. a. Werke von Sarah Moss, Torrey Peters, Shirley Jackson, Julia Strachey, Adrienne Brodeur und Frances Cha übersetzt. 2021 erschien ihr Buch FRAUEN LITERATUR, Abgewertet, Vergessen, Wiederentdeckt. Sie lebt in Hamburg.