„Wie (die Flapper) zu Recht geltend machten, war das Anrecht auf bequeme Kleidung im Grunde ebenso bedeutsam wie das allgemeine Wahlrecht. Keine Frau war dem Mann faktisch gleichgestellt, solange ihre Organe langsam von Walbeinkorsetts zerquetscht wurden oder sechs Kilo schwere Turnüren und Petticoats ihre Bewegungsfreiheit einschränkten.“
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Die Autorin bringt das Recht auf bequeme Kleidung mit dem allgemeinen Wahlrecht in einen Zusammenhang. Man erlebt die Flapper als Narzisstinnen und bezichtigt sie „der politischen Passivität“. Die Kritiker:innen ignorieren die Revolte der freien Bewegung. Sie übersehen die Revolver der Selbstbestimmung.
Die Flapper sind ein Phänomen der Années folles. Die 1920er Jahre antworten auf den Optimismus der Gründerzeit mit den Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg.
„Die soziale Landkarte wird neu vermessen.“
Einen ikonografischen Maßstab liefert Josephine Baker auf der europäischen Bühne. Ihre Erscheinung bestimmt sämtliche Register „der Hochglanzästhetik des Art déco“. Die Amerikanerin in Paris hypostasiert den „knabenhaften Flair der französischen garçonne“.
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Karitative Aristokratie
Sie war Künstlerin, Mäzenatin und Muse. Marion Margaret Violet Manners, Duchess of Rutland (1856 - 1937) überschritt die Grenzen des viktorianischen Ehekomments im Einvernehmen mit ihrem Mann. Nicht zuletzt als Geliebte von Montagu Corry. Der 1. Baron Rowton (1838–1903) diente dem britischen Premierminister Benjamin Disraeli als Privatsekretär. Eine Tochter der Duchess soll aus dieser Verbindung stammen. Auch die von Mackrell porträtierte Lady Diana Olivia Winifred Maud Manners (1892 - 1986) behauptete, nicht vom 8. Herzog von Rutland gezeugt worden zu sein. Als biologischen Vater gab die Urenkelin des 24. Earl of Crawford einen politisch und literarisch engagierten Grundbesitzer aus Lincolnshire (und Erben der Baronie Brownlow) an. Henry Cockayne-Cust soll im Übrigen auch der leibliche Großvater von Margaret Thatcher gewesen sein.
Judith Mackrell, „Die Flapper. Rebellinnen der wilden Zwanziger“, aus dem Englischen von Susanne Hornfeck und Viola Siegemund, Insel, 28,-
Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs wendet sich Diana im Rahmen der Voluntary Aid Detachment der Krankenpflege zu. Für Mutter Violet unterscheidet sich der Zivildienst kaum von Prostitution. So oder so lässt sich der Kontakt mit dem gemeinen Mann im Plural seiner Erscheinungen nicht vermeiden. Im Dunstkreis des Pöpels konkurriert der Gestank von „faulendem Abfall“ mit den Ausdünstungen der Schnapsleichen an den Themse-Docks nahe der Southwark Bridge, einem Übergang zwischen der City of London und dem Stadtteil Southwark. Da steht ein antikes Hospital. 1537 wurden an Ort und Stelle die ersten englischen Bibeln gedruckt. Damals pulste der Klinikbetrieb schon beinah vierhundert Jahre – und zwar auf einem Gräberfeld aus der romanischen Ära Britanniens. Im Mittelalter inszenierten William Shakespeare und Ben Jonson (ein Mann, der Kopf und Kragen für die Kunst riskierte) in der Nachbarschaft.
Namenspatron des Hospitals ist Thomas Becket, Lordkanzler Englands und Erzbischof von Canterbury. Im Augenblick der Kontaktaufnahme einer Aristokratin mit den niedrigen Ständen zählt das St Thomas‘ Hospital zu den von der Armee beanspruchten Einrichtungen. Als 5. London General Hospital ist es der Behandlung verletzter Soldaten vorbehalten. Diana checkt nebenan im Guy’s Hospital ein, das erst im 18. Jahrhundert gegründet wurde. Sie legt eine Schwesternuniform an, die ihre Mutter wenig kleidsam findet. Lady Diana erwarten „niedere Arbeiten und … kleinliche Vorschriften“. Doch verbindet sich damit eine klandestine Autonomie. Die Elevin entgeht gerade der häuslich-höfischen Aufsicht. Nach den Spielregeln ihrer Klasse erschöpft sich ihre einzige Aufgabe darin, einen untadeligen Ruf bis zur Hochzeit mit einem Mann von Stand und Vermögen zu wahren. Darauf achten die Familienkiebitze. Nun operiert Diana jenseits der Reichweite dieser nervenden Zuträgerinnen und Zuträger.
„Mit dem Kriegseintritt der europäischen Mächte hatte man (Millionen Frauen weltweit) unfreiwillig ein Geschenk gemacht: eine bislang ungeahnte Freiheit. Der Optimismus der amerikanischen Journalistin Mable Potter Daggett, die damals schrieb: ‚Für den 4. August 1914 können wir in den Geschichtsbüchern vermerken, dass die Tür des Puppenhauses sich geöffnet hat‘, war allerdings verfrüht.“
„Mit dem Kriegseintritt der europäischen Mächte hatte man (Millionen Frauen weltweit) unfreiwillig ein Geschenk gemacht: eine bislang ungeahnte Freiheit. Der Optimismus der amerikanischen Journalistin Mable Potter Daggett, die damals schrieb: ‚Für den 4. August 1914 können wir in den Geschichtsbüchern vermerken, dass die Tür des Puppenhauses sich geöffnet hat‘, war allerdings verfrüht.“
Die Socialite Diana glänzt in ihrer Rolle als Helferin in höchster Not. „D.W. Griffith, hält sie für ‚die meistgeliebte Frau Englands“. Man zeichnet sie weich und hält sie auch in Feuilleton-Ehren. Ihre öffentlichen Auftritte haben in Australien und Amerika Nachrichtenwert.
Auch sie ist eine Königin der Herzen; die Lady Di ihrer Ära. Das Publikum begreift sie als Prinzessin, da sie nur eine dynastische Stufe unter der regierenden Familie rangiert.
Bald mehr.
Aus der Ankündigung
Die 1920er Jahre versprechen einen Aufbruch in ein neues Leben. In den USA machen die Flapper von sich reden: junge Frauen, die kurze Röcke und kurzes Haar tragen und sich selbstbewusst über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzen. Sie verkehren in Jazzbars und Nachtclubs, trinken hochprozentigen Alkohol, rauchen, tanzen Charleston, Shimmy und Black Bottom und leben ihre Sexualität aus. Doch es geht diesen Frauen um mehr als nur Provokation: Es ist vor allem der Kampf um Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit in einer männerdominierten Welt. Mit dem Flapper ist der Typus einer neuen, „gefährlichen“ Frau geboren!
Die britische Autorin und Kritikerin Judith Mackrell erzählt in diesem reich bebilderten und spannend geschriebenen Buch von sechs Frauen, die zu Ikonen der »Roaring Twenties« wurden: der Tänzerin und Sängerin Josephine Baker, der Schriftstellerin und Tänzerin Zelda Fitzgerald, den Schauspielerinnen Tallulah Bankhead und Lady Diana Cooper, der Publizistin und Verlegerin Nancy Cunard und der Malerin Tamara de Lempicka.
Zur Autorin
Judith Mackrell ist eine der wichtigsten Tanzkritikerinnen Großbritanniens und Autorin mehrerer Bücher, darunter die Biografie über die russische Ballerina Lydia Lopokova und ihren Mann John Maynard Keynes, die 2008 für den Costa Biography Award auf der Shortlist stand. Judith Mackrell lebt in London.