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2022-07-14 07:49:34, Jamal

Prä-Pandemischer Kulturkampf

„Späte Rosen. Frühe Fröste.“ Jürgen Becker

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Deutsch-deutsche Aushandlungsprozesse. Die Zivilgesellschaft auf hundertachtzig. Dirk von Petersdorff trifft jeden Dissens-Nagel auf den Kopf.

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Verinnerlichte Äußerlichkeiten

Prä-Pandemischer Kulturkampf

Militärhubschrauber überfliegen das Haus auf dem Weg zu einem NATO-Manöver in Polen. Jenny sieht „stählerne Käfer“, während das Gespräch mit der Nachbarin durch eine Rinne besten Einvernehmens plätschert.

Jenny warnt, es könne am Abend etwas lauter werden. Sie hat einen „beruflichen Bekannten“ eingeladen. Rolf arbeitet für eine Krankenkasse. Er kennt die Stadt, in die Jenny mit ihrem Mann Friedrich und ihren Söhnen Paul und Georg gezogen ist, noch aus DDR-Zeiten. Rolf fand es nötig, das zu sagen. Eine sentimentale Bekundung vielleicht. Eine ältere Rechte feststellende Behauptung? Eine rassistische und außerdem unkorrekte Bemerkung ging Rolf leicht über die Lippen. Vermutlich versteht er das unter persönlicher Freiheit.

Dirk von Petersdorff, „Gewittergäste“, Novelle, C.H. Beck Verlag, 124 Seiten, 20,-

Rolf berät „Jennys Firma, die ein Fitnessprogramm für ihre Mitarbeiter aufbauen“ will. Jenny erwartet auch Rolfs Ehefrau an diesem Freitagabend. Und Tine, „eine Jugendfreundin ihres Mannes, die sich spontan gemeldet“ hat und jederzeit auch eine die Ehefrau ausschließende Begegnung akzeptabel gefunden hätte. Jenny erinnert das Kartonfoto einer (offenbar von Friedrich, den nur Tine Freddy nennt) Verzückten in einem „sehr sommerlichen Top … (mit) markantem … Zopf“.

Jenny kümmert sich um die Quiche Lorraine, den Salat. Zum Nachtisch Eis, „besser ohne Sahne“.

Ich bin sofort wie narkotisiert von den westdeutschen Schwingungen in der ostdeutschen Diaspora. Ich bilde mir ein, jeden Millimeter eines in jeder Hinsicht verminten Geländes zu kennen. Alle können alles nur falsch machen. Die Reserve und das Unbehagen lasten bereits auf den Schultern der Gastgeberin.

Wird schon schief gehen.

„Denn was ist eine Novelle anderes als eine unerhörte Begebenheit.“

So auf den Punkt brachte Goethe die Novelle in einer von Eckermann 1827 festgehaltenen Bemerkung. Die Novelle ist eine Form der Neuzeit ohne antikes Vorbild. Sie verlangt das Ereignis von schicksalhafter Bedeutung als Neuigkeit.

Peterdorffs Ton erinnert mich an eine andere Novelle, an Walsers „Fliehendes Pferd“. Diese akkurat vor den Arabesken, Auffächerungen und jedweder Valeur-Virtuosität abgeschnittenen Sätze. Bloß nicht zu viel. Und doch türmen sich die Evokationen von der ersten Seite.

Der bürgerliche Wille zum sozialen Frieden ist so grundsätzlich irritiert, dass Jenny in ihrem eigenen Haus wie auf Zehenspitzen die letzten Vorbereitungen trifft.

„Hatte sich dieser Rolf (nicht) praktisch selbst eingeladen? Ach was.“

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Zur gleichen Zeit unterweist Friedrich seinen Sohn Georg im Autofahren. Das Glück der weitgehend abgeleisteten Vaterschaft in einer Kiesgrube. Friedrich findet Anlässe, militärnostalgische Aufwallungen und Anwandlungen von Leuten aus der Gegend zu memorieren; NVA-Veteranen; Freizeitsoldaten; BRD-kritische Nationalisten, die dem Nachwuchs Flöhe in die Ohren setzen. Gerüchte, Legenden, Mythen von einem desertierten Rotarmisten, der wiedergängerisch die Landschaft kreuzt. Ein uniformiertes Gespenst.  

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Besuch aus der alten Heimat mokiert sich über ostdeutsche Ortsnamen. Erwähnung findet die thüringische Kreisstadt Sömmerda. Im westdeutschen Gegenlicht taucht Heidelberg auf.

Stammen Jenny und Friedrich aus Baden? Schwäbeln sie in den Ohren der Einheimischen in ihrer neuen Heimat? Da kennt man den Unterschied zwischen schwäbisch und badisch nicht. Im Gegenzug braucht Friedrich seine Söhne als Dolmetscher, wenn er die Bauern vor Ort verstehen muss.

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Mir gefällt die Geschichte bereits vor dem Gewitter, das der Titel verspricht. Noch ist nichts passiert. Aber schon liegt alles im Argen.  

„Den Möbeln eine Stimme geben, damit sie endlich erzählen können“, lese ich nebenbei bei Jürgen Becker, der wunderbar ins Bild passt.

Vergessenes Erleben, aber man kann sicher sein, 

daß es mitgewirkt hat, später, wenn wieder einmal

eine Situation entstanden war, bei der man nicht wußte,

ob nach der Dämmerung die Nacht kommt oder der Morgen.“

Jürgen Becker

Bei Petersdorff liest sich das so:

„(Friedrich) sah eine Szene irgendwo in einer Bar im Morgengrauen, und Tine sagte etwas vom Leben in Wellen oder auf Wellen. Ihr Zusammensein als Wellenspitze?“

Im Damals von Neunundachtzig waren Tine und Friedrich in Prag. Sie hatten sich „vom Menschenstrom durch die Stadt ziehen lassen“ und It‘s my life von Talk Talk gehört. Eine Benetton-Reklame lieferte dem Augenblick die Signatur. Die flanierenden Zaungäste gewaltiger Verwerfungen gehörten zu den Siegern. Die armen Verwandten aus dem aufgeschlossenen Ostblock konnten ihnen nur entgegenkommen. Der Geschichtsverlauf erschien unumkehrbar, wenn auch anders als im Historischen Materialismus vorausgesagt.

Morgen mehr.

Aus der Ankündigung

Was ein harmonisches Abendessen werden sollte, läuft völlig aus dem Ruder: Jenny und Friedrich, aus dem Westen stammend, im Osten lebend, haben Bekannte aus Brandenburg eingeladen. Mit einer überraschend explosiven Mischung aus schwülem Wetter, kratzbürstigen Gästen und lärmenden NATO-Hubschraubern hinterlässt dieser Abend bei jedem seine Spuren.
Es soll ein anregender, harmonischer Abend werden. Jenny und Friedrich, ein Ehepaar mittleren Alters aus Westdeutschland, das seit einem Jahrzehnt mit den beiden Söhnen in Ostdeutschland lebt, haben Arbeitskollegen Jennys, Rolf und Beate aus Brandenburg, zum Essen eingeladen. Außerdem hat sich Tine, eine ehemalige Freundin Friedrichs, angekündigt. Aber nicht nur das Wetter - ein schweres Gewitter zieht auf - sorgt für erhebliche Unruhe. In der Nähe findet eine NATO-Übung statt und ein ehemaliger Sowjetsoldat, der einem Kameraden nachtrauert, soll sich hier herumtreiben. Vom ersten Moment an bringen Rolf und Beate insbesondere Jenny aus der Fasson und Friedrich in Verlegenheit, sarkastisch, gekränkt, angriffslustig. Noch immer unverstandene west-östliche Seelenlagen brechen sich Bahn, die attraktive Tine, plötzliche Besucher und das tobende Gewitter sorgen für zusätzliche Spannung, und dann gerät auch noch ein Kampfhubschrauber ins Trudeln …   

Zum Autor

Dirk von Petersdorff lebt in Jena, wo er an der Friedrich-Schiller-Universität lehrt. Er veröffentlichte u.a. Essays, die Erzählung "Lebensanfang" (2007), den Roman "Wie bin ich denn hierhergekommen" (2018) und mehrere Gedichtbände, zuletzt "Sirenenpop" (2014). Er erhielt u.a. den Kleist-Preis und den Preis der LiteraTour Nord. Er ist auch der neue Herausgeber des "C.H.Beck Gedichtekalenders".