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2022-07-17 08:08:15, Jamal

„Im Inneren nagen die Zweifel, aber der Sog der Drehtür läßt kein Innehalten zu.“ Jürgen Becker

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Erotische Kompetenz

Unter dem Vorwand einer Geburtstagsfeier laden die Freundinnen Anja Ranewa und Milka Putowa ihre Mitschüler Alexei Lopatin und Petja Trifonow ein. Schauplatz der ungewöhnlichen Begegnung ist, in Abwesenheit der Eltern, Milkas normalerweise deprimierendes Zuhause.

Kristina Gorcheva-Newberry, „Das Leben vor uns“, Roman, C.H. Beck, 359 Seiten, 25,-

Anja und Milka schwärmen gemeinsam für den virilen Alexei. Er existiert als Mittelpunkt „verträumter Blicke und sehnsüchtiger Seufzer … naiv-pubertierender Mädchen“. Der Sohn bequemer Günstlinge schiebt eine ruhige Kugel. Er hält sich zwar an die Regeln, meidet aber die Karrieristinnen und Karrieristen unter den Nachkommen der Nomenklatura in seiner Reichweite. Der „anämische“ Asthmatiker Petja liebt die Klassiker. Er pfeift aus dem letzten Loch. Petja profitiert von dem Gerücht, ein Urenkel von Aristokraten zu sein.

Juri Walentinowitsch Trifonow hieß ein sowjetischer Schriftsteller.

Milka und Petja tauschen Bücher und diskutieren das Verhältnis von Tolstoi zu seiner geschundenen Frau, die „Krieg und Frieden“ zwölf Mal komplett erfasst haben soll.

Gerade fand ich diesen Hinweis:

„Unterstützung suchte (Sofja Andrejewna Tolstaja) bei Dostojewskis Frau Anna, die ebenfalls das literarische Geschäft ihres berühmten Mannes verantwortete. Sofia konnte die schwierige Handschrift ihres Mannes entziffern, schrieb viele seiner Skripten neu und editierte sie. Allein sieben Mal kopierte sie Krieg und Frieden!“ Quelle

Trotz eines poetisch-philosophischen Interessengleichklangs mit Petja zieht es Gastgeberin Milka zu Alexei. Dessen erotische Kompetenz ragt auf als olympische Marke. Zudem erscheint Alexei ohne Vorlauf abgeklärt.

Gorcheva-Newberry erzählt breit, was es zu essen gibt, und wie sich die Mädchen in Schale geworfen haben.* Ein sowjetnostalgisches Fluidum offenbart sich als historische Schweißspur. An anderer Stelle schildert die Autorin herzzerreißend, wie der Teig für das Osterbrot Kulitsch zurechtgeknetet wird. Vor Inangriffnahme der heiligen Aufgabe, bekreuzigt sich Anjas Großmutter dreimal vor der Ikone, die wiederum auf eine unterschlagene Religiosität verweist.

„Auch (steht) sie eine Minute schweigend da, bevor sie alle Zutaten (mischt).“

Anjas Oma ist eine Überlebende der achtundzwanzig Monate währenden Leningrader Blockade. Nach dem Tod ihres Bruders bewahrte man den „gefrorenen Leichnam auf dem Balkon auf, um ihn im Frühling … (zu begraben) … Manche Leute versteckten ihre Toten … damit sie deren Lebensmittelkarten weiterverwenden konnten“.  

„Wir hatten Illusionen, ansonsten hatten wir nichts.“ Jürgen Becker

*Milka und Alexei verziehen sich in Milkas Zimmer. Resigniert resümiert Anja: „Ich wollte das Gleiche erleben … begehrte Trifonow aber nicht.“

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Bei der vormilitärischen Ausbildung brilliert Milka. Ihre Treffsicherheit begründet sie mit einem Mix aus Hass und Humor:

„Ich stelle mir vor, dass (die Zielscheibe) das Arschloch meines Stiefvaters ist.“

Aus der Ankündigung

Was bedeutet es, in den letzten Jahren der Sowjetunion erwachsen zu werden - in einem Staat kurz vor dem Zerfall? Dieser Roman verwebt auf beeindruckende Weise die turbulente Geschichte eines Landes mit dem Schicksal einer verlorenen Jugend und erzählt dabei von einer unerschütterlichen Freundschaft zweier Mädchen zwischen Unsicherheit und Aufbruch.
Anja und ihre beste Freundin Milka wachsen in den Achtzigerjahren am Stadtrand von Moskau auf. Während ihre Eltern gezeichnet sind von den Entbehrungen der Vergangenheit, blicken die beiden Mädchen einer Zeit der Umbrüche und Reformen entgegen. Frech und lebenshungrig versuchen sie, jeden Schnipsel westlicher Popkultur in die Finger zu kriegen. «We Are the Champions» ist für sie mehr als nur ein Lied, es ist eine Parole. Aber Anjas Jugend nimmt durch eine unerwartete Tragödie ein jähes Ende – und gleichzeitig der Staat, der ihr Zuhause bedeutet hat. Noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beschließt sie, zum Studieren in die USA zu gehen und dort zu bleiben. Doch beim Versuch, sich im Sehnsuchtsland ihrer Jugend eine neue Heimat aufzubauen, merkt sie, dass sich die eigene Herkunft nicht einfach abschütteln lässt und ein Neuanfang nur möglich ist, wenn die Geister der Vergangenheit begraben sind.   

Zur Autorin

Kristina Gorcheva-Newberry wuchs in Moskau auf, studierte dort an der Staatlichen Linguistischen Universität und arbeitete anschließend als Lehrerin und Dolmetscherin, bevor sie in die Vereinigten Staaten emigrierte, wo sie außerdem Englisch und Kreatives Schreiben studierte. Ihre Kurzgeschichten wurden mehrfach ausgezeichnet, «Das Leben vor uns» ist ihr erster Roman.